Hans Joachim Teschner

 

 

 

 

Märchen,

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Düvelskram

 

Tafel 8

Der Fluch des Landgrafen

In Zeiten des Hip Hop, des Fitnesswahns und der Internethörigkeit ist den meisten Menschen das Bewusstsein für die eigene Geschichte abhanden gekommen. Wer von den Varelern weiß denn noch, dass einst Kobolde, Elfen und sogar Zwölfen die Gegend unsicher machten? Dass Wander-Apotheker um Punkt Mitternacht auf den Wasserturm galoppierten, um dem Klabautertum zu frönen? Wer kennt die Sagen von den grässlich stinkenden Junkern und den unbemannten Häuptlingstöchtern, die durch die Neumühlenstraße stoben und an den Fensterläden rüttelten, wobei sie solch lästerliche Blasphemien ausstießen wie "Die Erde ist ein Kugel" oder "Rheinländer sind auch Menschen".

Eine der vergessensten Sagen berichtet von dem Schicksal des unglücklichen Kammerfräuleins Elsbeth, ein Schicksal, dessen Spuren unübersehbar in die Vareler Fußgängerzone eingebrannt sind, wie wir noch sehen werden.

Zu jener Zeit begab es sich, dass der Oldenburger Landgraf eine Landgräfin sein eigen nannte. Damals stak die Emanzipation noch in den Holzlatschen und deshalb waren die Eigentumsverhältnisse noch eindeutig geregelt. Diese Landgräfin nun verfügte über eine ungemein pralle Schönheit, die auch dann keinen Schaden davontrug, wenn die Dame in den Matsch fiel oder von Kuhschiet bekleckert wurde. Von ihrer eigenen Wohlgestalt war die Landgräfin dermaßen erschüttert, dass sie sich alsbald in sich selbst verliebte. Stundenlang schaute sie inbrünstig in ihren Umkleidespiegel und vergaß alles um sich herum. Wenn sie dann doch einmal ein paar Schritte tat, fiel sie prompt in den Matsch, und die neugierigen Kühe des Nachbarn Ommo Fleßner bekleckerten sie mit Schiet.

"So geht das nicht weiter!" rief eines Tages der Landgraf, "die meinige Landgräfin wird ja noch ganz rammdösig. Sie braucht dringend eine Luftveränderung, und deshalb muss sie nach Varel abtransportiert werden, denn dort gibt es frische Fische, ach was rede ich denn, dort gibt es frische Luft."

 

Und so geschah es. Kammerfräulein Elsbeth – wir kennen sie bereits aus der Vorankündigung ihres unglücklichen Schicksals – unser Kammerfräulein Elsbeth übernahm die Aufgabe, die Privatsachen und die wichtigsten Reiseutensilien in einen Zweispänner zu verstauen. Diesem folgten acht Ochsenkarren für Hausrat, Garderobe, Puderfässer, Gaukler und dem Wahrsager Meinardus, genannt Tom-Tom, der die richtige Route voraussagte. Auf dem letzten Ochsenkarren aber wurde ein scheunentorgroßer Spiegel verkeilt und die ganze Prozession wurde gen Varel gelenkt. Frau Landgräfin, betört von ihrem Spiegelbild, stolperte hinterher, und sie richtete blumige Verslein an ihr Ebenbild und glühende Liebesschwüre und fiel wohl an die siebenundsiebzig Mal in den Matsch. Die am Wegrand grasenden Kühe ließen sich auch nicht lumpen, und wir wissen inzwischen, was das zu bedeuten hatte. Als der wunderliche Zug am Wasserturm vorbeirumpelte, tagte gerade der Konvent der Wander-Apotheker in der Turmspitze. Ei, wie die Gesellen krakeelten und mit selbst gebatikten Pillen um sich warfen. Etliche der Kügelchen trafen die Gräfin, doch sie spürte nichts davon, da mittlerweile ein Panzer aus getrocknetem Kuhschiet und Matsch ihren liebreizenden Körper umschloss. Wirkungslos prallten die homöopathischen Geschosse ab. Selbst eine Kanonenkugel hätte den Panzer nicht brechen können!

"Hurra, die pralle Schönheit gibt uns die Ehre!" jubelten die Vareler schon von weitem und liefen den Ochsenkarren auf der Oldenburger Straße entgegen. Ja, es gab einen regelrechten Massenauflauf, ungefähr an der Stelle, wo heute die Zapfsäulen einer Tankstelle um die Gunst der Kraftkarossen buhlen. Alle wollten die zauberhafte Regentin zu Gesicht bekommen, und die Überlieferung berichtet, dass von der Süße ihres Anblickes die Salzheringe sich in Bahlsener Zuckergebäck verwandelten. Etlichen Gaffern brach gar das Herz! Fortan wurde die Gräfin die "Königin der Herzen" geheißen, und der Heimatdichter Georg Fuseler verfasste zu ihren Ehren noch während seiner eigenen Herzattacke die Hymne "Ein Kandis im Wind". Einer anderen Version zufolge wurde bei der Drängelei manch Fußvolk tot getrampelt, andere erstickten an dem Geruch des Kuhfladenpanzers, und der Rest wurde von einer Pockenepidemie dahingerafft. Einzig das Kammerfräulein Elsbeth blieb unversehrt, denn sie war an die Seite der Gräfin geeilt, um unter Zuhilfenahme von Atemnot und Riechsalz in eine Ohnmacht zu fallen.

 

"Mir wird auf einmal ganz blümerant", hauchte die Königin der Herzen verzagt, als sie in dem Spiegel das erbleichte Gesicht des Kammerfräuleins Elsbeth erblickte. Man muss wissen, dass damals die Zahnpasta unbekannt war, und so nimmt es nicht wunder, dass der ungefilterte Hauch der Gräfin die unglückliche Elsbeth aus ihrer Ohnmacht riss, nur, um das ungetrübte Odium der Zahnfäule zu erleben und darob selbst zu verhauchen. So ging es hin und her. Da gab ein Hauch dem anderen die Hand, und je intensiver die beiden sich anhauchten, umso mehr spürten sie Nähe und Seelenverwandtschaft, und unmerklich verliebten sich die Hauchenden ineinander und übereinander und noch viel mehr. Bald schon mündete das Techtelmechtel in eine wilde Ehe, eine Form der Leibeigenschaft, die mit dem Bann belegt war.

Mit einiger Verspätung und den schon damals üblichen Übertreibungen der Boten und Berichterstatter erreichte die Kunde den Landgrafen im fernen Oldenburg, und er stieß einen grässlichen Fluch aus: "Auf ewig soll die Elsbeth Krabben pulen und beim Anblick meines Leibes vor Schreck versteinern!" Hochgradig erhitzt galoppierte der Landgraf nach Varel, wo er ein furchterregendes Gewand anlegte: Auf den Kopf platzierte er die Schlafmütze seiner Base Kunigunde, die den Hofpoeten Hugo Ball geehelicht hatte. Um die grauenhafte Wirkung zu erhöhen, setzte er die Base-Ball-Mütze verkehrt herum auf! Über seinen behaarten Wanst zog der Rachsüchtige ein Netzhemd von seinem letzten Mallorca-Urlaub, und eine labberige Unterhose diente der Zurschaustellung seines Gemächts. Nicht genug damit: gelbliche Fußlappen mit dem Aufdruck des ekelerzeugenden Zauberwortes „Adidas“ verunglimpften seine Füße, die zudem mit klebrigen Kautschuk-Galoschen eine stink- und schweißabsondernde Symbiose eingingen. In diesem Aufzug trat er vor das Kammerfräulein Elsbeth. Und es erfüllte sich der Fluch: Augenblicklich versteinerte die gerade Krabben pulende Jungfer.

Allerdings kursierten später Gerüchte, wonach das Fräulein Elsbeth gar nicht versteinerte, sondern verholzte. Böse Zungen meinen, sie sei in Wirklichkeit verbröselt, dann verschwiemelt und zum Schluss sogar verduftet. Ganz Schlaue behaupteten, sie wäre erst verblödet, dann verknöchert und zu guter Letzt verblichen, was aber nicht stimmen kann, denn wie kann jemand verbleichen, der sowieso schon verknöchert ist. Die Urvareler wissen es ohnehin besser: Das Fräulein Elsbeth ist zu Bronze erstarrt und pult immerfort Krabben, und zwar Ecke Hindenburgstraße – Obernstraße. Das ebenfalls verbronzte Kind an ihrer Seite aber ist der uneheliche Sproß aus der wilden Liebesromanze.

 

An der prallen Schönheit der Landgräfin aber hatten die Vareler keine Freude bzw. Herzattacken mehr, denn der Landgraf steckte sie in ein Salzfass, wo sie binnen weniger Wochen ganzheitlich verpökelte.

 

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