Hans Joachim Teschner

 

 

 

Märchen,

Mythen,

Düvelskram

 

Tafel 10

Der Häuptling und die Moorleichen

Glaubt man den alten Sagen, so wurde Varel nicht nur von Erdwichteln und liebestrunkenen Gräfinnen heimgesucht, sondern auch von Moorleichen, die speziell in der Herrlichkeit Dangastermoor herumwimmelten und mit ihrer klappernden Knochenmusik so manch einen Torfstecher um den Verstand brachten. Die Kunde von den Klötergeistern drang bis nach Ostfriesland, wo der Häuptling Edzard Cirkcena wütete. Der Grund seiner Wut war die Angewohnheit seiner Untertanen, seinen Namen mit einer Beigabe von Speichel abzu­sondern. Schon beim Vornamen verhaspelten sie sich und spuckten einen Schleim auf die Nase des Regenten. Den Nachnamen Cirkcena mit seinen Zischlauten aber brachte keiner heraus, ohne den Häuptling mit Zungenwasser so vollzuspritzen, dass dieser beinahe absoff.

Darüber geriet Cirkcena in eine heillose Raserei. "Pfählen sollt ihr jeden", schrie er seine Leibwache an, "der meinen Bart als Spucknapf benutzt!" Na, es dauerte nicht lange, da staken fast alle Ostfriesenköpfe auf Pfählen. Es traf sich, dass der römische Geschichts­schreiber Tacitus gerade vorbeischaute. Die Anordnung der Pfähle vermochte ihn ästhetisch nicht zu überzeugen. "Welch eine Ödnis", nörgelte er undankbar, "weit und breit nur Spargelfelder." Das kommt uns Heutigen irgendwie bekannt vor.

Cirkcena aber schmiedete einen schurkischen Plan. Er wollte in die Herrlichkeit Dan­gastermoor einfallen, die Moorleichen rauben und sie in seiner Rüstkammer in Emden öffentlich ausstellen. Von den Eintrittsgeldern der Touristen wollte er sich einen klangvollen Namen kaufen oder aber mit der Aussicht auf einen saftigen Gewinn ausloben, ein Name, bei dem kein dz oder kc oder c den Speichelfluss auslösen würde. 

Auf ging's! Als erstes ließ Cirkcena die Zungen seiner Leibgardisten herausreißen. Wir ahnen, warum. Dann befahl er seinem Sternendeuter Carl Gauß, eine Landkarte von Nord­deutschland zu erstellen. Gauß schlachtete bei Vollmond ein Schaf und las aus den Gedärmen die genaue Route nach Varel, die er in ein Pergament ritzte. Außerdem entdeckte er im Schafsmagen eine selt­same Zauberformel: E = m c2. Sie besagte, dass, wer unendlich weit geradeaus blickt, seinen eigenen Hinterkopf zu Gesicht bekommt. Hexerei! Auf der Stelle ließ Cirkcena den Gauß pfählen und das Pergament mit der Routenkarte in einen unverdächtigen Zehnmarkschein umändern, damit niemand dessen wahres Wesen errate. Jahrhunderte später wurde die Karte des Sternendeuters Gauß bei Grabungen am Dangaster Deich entdeckt, tausendfach kopiert und fälschlicherweise als Zahlungsmittel benutzt.

 

Nun aber los! Cirkcena und sein Tross stürmten gen Varel. Wohl an die sieben Jahre stürmten sie hin und her, lasen die Karte mal von vorn, mal von hinten, da stießen sie auf schwarzhäutige Menschen, die in weiße Laken gehüllt waren. Moorleichen! Die Geisterwesen schienen zu ahnen, was ihnen blühte, denn sie behaupteten, sie seien Araber aus dem Morgenland. Außerdem faselten sie von einem Bart des Propheten, der dereinst auf die Fremdlinge niedersausen würde. "Das ich nicht höhnisch lache!" lachte Cirkcena höhnisch und befahl ihnen, seinen Namen nachzubeten. Alle wurden gepfählt, denn sie konnten beim Buchstabieren die Spucke nicht zurückhalten. Erneut wurde der Zehnmarkschein befragt mit dem Ergebnis, dass der Tross sieben Monde später auf der Osterinsel landete. Die dort sesshaften Polynesier wurden aus gutem Grund restlos gepfählt. Ihre inzwischen versteinerten Köpfe legen Zeugnis ab von dem Wüten des ostfriesischen Häuptlings. Schließlich aber gelangte Cirkcena an das Ziel seiner Reise und bog in den Winkelsheider Moorweg ein.

Hier kam es zu der berühmten historischen Begegnung: Cirkcena stellte sich einem Einheimischen in den Weg. "Sag er mir, lieblicher Gevatter", hub Cirkcena an, "wo kann ich hier eine Moorleiche klauen?" Dem Seifensieder und Torfologen L. "Götz" Meyer, denn um diesen handelte es sich, stieg das Blut in die Schläfen. Lieblicher Gevatter? Derart dreist hatte ihn noch keiner beleidigt! "Klei mi an' Mors", knurrte Götz unflätig, spuckte einen Priem auf den Stiefel des Häuptlings und zeigte ihm sein Hinterteil. "Aha", dachte Cirkcena, "so einfach geht das". Dann drosch er mit seinem Ochsenziemer auf den Mors des Torfologen ein, weil er dachte, dass aus diesem Körperteil die Moorleiche entweichen würde.

Augenblicklich erhob sich ein gar fürchterlicher Gestank und breitete seine schwefligen Schwingen über die Sümpfe. Verstört ließen die Torfstecher ringsum ihre Spaten fallen. Dann rannten sie davon, wobei sie einander zuriefen: "Hossa, heute gibt es Schweine­braten!" Auch zwei wissenschaftliche Kollegen des Torfologen Meyer kamen aus der nahen Kate gerannt, denn sie glaubten, der Frühling sei ausgebrochen. Man muss wissen, dass sie sich der Alchemie zugewandt hatten und mit dem Verbrennen von Kuhmist, Torf und Kaker­laken versuchten, Gold zu erzeugen. Kein Wunder also, dass der Schwefelgestank sie aufs angenehmste erregte.

Edzard Cirkcena aber nahm sich umgehend ihrer an und bearbeitete ihre Hinterteile so hart, dass die herausgeprügelten Schwefelschwaden den Tag zur Nacht machten und der aushufende Gestank die Bevölkerung Varels dezimierte. Sogar die Vögel fielen mangels Frischluft von den Birken. Dummerweise verendeten die Moorleichen gleich mit, und Cirkcena musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.

 

Hier endete die Sage, und an ihrem Wahrheitsgehalt hat lange Zeit niemand gezweifelt. Bis im vorigen Jahrhundert ein sensationelles Dokument auftauchte: Es war der Nachttopf des Heimatdichters Georg Fuseler. In seinem letzten Atemzug hatte der Zeitzeuge einen Vierzeiler hineingeritzt:

 

"Eifrig springt der Ochsenziemer,  

und er löscht das Tageslicht.

Leichen aus dem Moor (Mors?) entweichen,

doch der Edzard kriegt sie nicht."

 

Die Moorleichen überlebten also auf ewig und verlustierten sich unter den Dachziegeln des Gasthofs "Zum Fürsten Bismarck". Einen dieser Untoten hat der Brücke-Maler Erich Heckel, der 1908 in der Herberge gastierte, zu Gesicht bekommen und auf Leinwand gebannt. Sein Gemälde "Der schlafende Pechstein" spiegelt das Grauen trefflich wieder.

So also geht die Sage. Doch die Ur-Vareler wissen es besser. In ihrer Not nämlich hatten die drei gepeinigten Torfologen den Namen des Häuptlings angerufen: "Großzügiger Edzard Cirkcena..." Oh weh, Speichel troff, Spucke netzte den Bart des Häuptlings. Rasend vor Zorn pfählte Cirkcena die Unglücklichen und stellte sie zur Abschreckung in Varel auf. Dort, in der Moltkestraße, thronen ihre Köpfe noch heute auf ehernen Pfählen und verstören mit ihrem Anblick die Kinder.

 

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