Hans Joachim Teschner

 

 

 

Märchen,

Mythen,

Düvelskram

 

Tafel 4

Der übermütige Junker

Eine verschollen geglaubte Legende berichtet von einem Junker aus der Neuenburger Gegend, dem es gefiel, seinen Übermut an den Vareler Bürgern auszulassen. Jeweils zum Wochenende ritt er über den Neumarktplatz und bedachte die Straßenhändler mit rüden Beleidigungen.

"Heh, du da!" schrie er einen Rübenhändler an, "deine Fische stinken wie die Socken meines Oheims Rencke Ukena aus Remels." Einer Fischfrau wiederum warf er die Bemer­kung an den Kopf, sie habe ihre Kartoffeln wohl mit Seife eingerieben; deshalb würden sie glänzen wie die Kinderpopos auf den Reklametafeln für Wegwerfwindeln. Ein ander Mal forkte er mit seiner Reitgerte durch die Teigwaren eines Bäckers, wobei er brüllte: "Elende Schlamperei! Deine Leberwürste liegen zwischen den Kaldaunen, und im Schmalztopf steckt ein Schweineohr. Wird Zeit, dass hier einer mal aufräumt!" 

Dass mit diesem Junker etwas nicht stimmte, war bald allen Varelern klar. Aber sie duckten sich unter seinen Schmähworten wie unter der Peitsche eines Tyrannen. Als der Edelmann aber die Tomaten des Bauern Edo Backhus mit dem höflichen Hinweis zertram­pelte, dass man die blutbeschmierten Brötchen niemanden zumuten könne, platzte den Ein­wohnern die Hutschnur. Sie marschierten zu ihrem Bürgermeister Tjade Eichel mit der Bitte, er möge dem Treiben ein Ende bereiten.

Mit dem Tjade Eichel hatte es eine besondere Bewandtnis. Von Amtsjahr zu Amtsjahr nahm er an Leibesfülle zu, und die Ratsherren ehrten ihn alsbald mit dem Beinahmen "Die kastaniengroße Eichel". Jedoch, der Titel verlor angesichts der Gewichtszunahme rasch an Aktualität, und deshalb wurde er umgeändert in "Die klootgroße Eichel". Es braucht keine ausschweifende Phantasie, um sich die weitere Entwicklung auszumalen. Aus der kloot­großen Eichel wurde die boßelgroße Eichel, der die kürbisgroße Eichel folgte. Am Ende seiner Dienstzeit hatte der Bürgermeister ein solch stattliches Format angenommen, dass er in einem festlichen Bankett zur "Zwanzigbruttoregistertonnen- und containergroßen Eichel" ausgerufen wurde.

Tjade Hans Eichel, zu jener Zeit im Stadium zwischen Boßel und Kürbis befindlich, galt als gerissener Taktiker und Leuteverdummer. Man munkelte sogar, er wäre mit dem Teufel im Bunde. Dem Grafen von Oldenburg hatte er einmal ein Stück saftiges Weideland abgeschwatzt und ihm im Gegenzug eine Kurtaxe versprochen. Damals wusste niemand, was eine Kurtaxe ist. Verängstigt bekreuzigten sich die Einwohner, weil sie argwöhnten, die Kurtaxe würde aus ihrem Käfig ausbrechen, mit dem Schwanz um sich schlagen und die Torfvorräte auffressen. Dem Grafen wiederum hatte Tjade Eichel weisgemacht, er könne mit der Kur­taxe kostenlos zum Badeort Dangast kutschieren, und zwar sage und schreibe siebenmal im Jahr!

 

Kein anderer als der anschwellende Bürgermeister verfügte über das Format, um den pöbelnden Junker in seine Schranken zu weisen. Tjade hörte sich die Klagen an und legte sich sofort ins Geschirr. Er lud den Stadtrat zu einer Sondersitzung ein, wo eine Arbeitsgruppe gebildet wurde. Diese setzte nach monatelangem Hickhack wegen der Höhe der Sitzungsgelder eine Kommission ein, die - nach zermürbenden Rangeleien um den Parteienproporz - einen Untersuchungsausschuss ins Leben rief. Der Ausschussvorsitzende bestellte den Bürger­meister in den Zeugenstand, was dieser mit dem Hinweis auf seine Immunität verweigerte. Darüber vergaßen die Abgeordneten den eigentlichen Anlass ihrer Aktivitäten und beschlos­sen kurzerhand eine Wegenutzungsgebühr, die der Graf von Oldenburg gefälligst zu ent­richten habe, wenn er mit seiner Kurtaxe nach Dangast gondelte.

Inzwischen verwüstete der tollwütige Junker die Marktstände. Als Reittier bevorzugte er neuerdings einen zauseligen Ziegenbock, mit dem er Zwiegespräche führte. "Edles Schlachtross Rosinante", wandte er sich an den Bock, "stampfe in den Boden, was hier an welken Blumen herumliegt und Modergeruch verbreitet." Und er gab ihm die Sporen.

Während die Abgeordneten im Rathaus sich die Lippen heiß redeten - mittlerweile ging es um eine Hundesteuer für Hühnerhalter - kam ein Wander-Optiker des Wegs. Mit seinem staatlich geprüften Optikerauge sah er sofort, was mit dem Junker los war. "Der Kerl ist ja fast blind, deshalb seine schrulligen Reden und Verwechslungen."

Am darauf folgenden Wochenende - der Ziegenbock hatte bereits drei Marktstände nieder­getrampelt - meldete sich der Optiker lauthals zu Wort: "Alle mal herhören! Seit zwei Monaten fällt kein Regentropfen mehr vom Himmel. Sogar die hier vorbeifließende Jade versiegt, oder hört jemand ihr Plätschern?" Verblüfft hielt der Junker in seinem Treiben inne: Tatsächlich, kein Plätschern war zu vernehmen. "Ich aber", setzte der Optiker fort, "habe die Jade aufgestaut und verkaufe euch gegen eine äußerst hohe und geradezu unverschämte Gebühr einen erfrischenden Wasserfall."

"Wasserfall?" schrie der Junker, "Wasser gegen Geld?" Wütend galoppierte er zum ver­meintlichen Wasserverkäufer und verlangte, als einziger und kostenlos in den Genuss der erfrischenden Kaskaden zu kommen, sonst würde es dem Wucherer schlecht ergehen. Der Optiker tat auf einmal sehr kleinlaut und murmelte: "Es soll alles so geschehen, wie der Herr es wünscht." Da packten die Straßenhändler den kurzsichtigen Junker, steckten ihn in einen Trog und spritzten mit einer Pumpe Wasser über seinen Schädel. Das erfrischende Nass aber kam aus den Dreckpfützen und Kloaken ringsum und war so faulig, dass der Junker entsetzt aus dem Trog sprang und für immer verschwand.

 

Anwesend war auch der Heimatdichter Georg Fuseler. Herzhaft biss er in einen rot-weiß-gesprenkelten Steinpilz und belehrte die Gaffer: "Mit einer Brille wäre das nicht passiert." Daraufhin versagte seine Stimme und seine Seele ging in die Ewigkeit ein.

Manchmal, wenn die Vareler auf dem Neumarkt ihre Zwiebeln kaufen, blicken sie ver­sonnen auf den Trog und die Wasserpumpe, die dort noch immer an den garstigen Junker erinnern. Den Touristen erklären sie gerne, was der Trog für sie bedeutet: Ein Mahnmal, ja ein Fanal gegen Übermut und Kurzsichtigkeit.

 

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