Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 40

 


 

Nach der Beerdigung von Jockel Meier waren sich Jerry, Diedel und Rita einig, dass sie wieder einen engeren Kontakt miteinander pflegen sollten. „Über E-Mail kein Problem“, hatte Diedel geschnauft und sich den Bierschaum von der Oberlippe geleckt. Da war es schon dunkel draußen. Sie hatten noch lange zusammengesessen, beim Leichenschmaus im Friedhofscafé Vollmann. Ein Disput war entbrannt über den „Verfaulungsgestank der Kultur“ (Diedel), über den Verfall aller guten Geister resp. Sitten, was sich in Sonderheit im Ausschenken von Biermischgetränken dokumentierte. Dies alles – Diedel hob seine ohnehin dröhnende Stimme auf Wut-Dezibel – könne man ja am Spießergetue treffend beobachten, nämlich da am Nebentisch mit seinen Duckmäuserfiguren und ihrem mitleidlosen Unterschichtengeplärre.

Vom Nebentisch wurden wütende Blicke geschleudert. 

Es wurde ungemütlich.

 

In Memoriam: Walter vor dem Edekaladen

 

 

Sie hatten daraufhin die „Örtlichkeit der Gastlichkeit der Traurigkeit“ (O-Ton Rita) verlassen, um ein „amtliches Gesöff“ (O-Ton Diedel) in einer „angesagten Füllstation“ (O-Ton Jerry) der Stadt zu fassen. Ihren Anhang hatten sie zurückgelassen. Diedels Frau zog beleidigt und eifersüchtig mit den Kindern ab, Ritas Mann alias Altmacker Karl-Heinz wollte sich aufs Ohr legen (Mannomann dachte Jerry zum wiederholten Mal, was war da bloß mit Rita passiert), und der Rest der Grabesgesellschaft vertiefte sich in der Aufarbeitung von Krankheiten, Wetterzuständen, Urlaubsmiseren, ungehörigem Benehmen und Gehirnfäule.

 

Multiple Choice Frage: Welche der genannten Schicksalsschläge passt nicht in das Schema Nettes-Geplauder-nach-Beerdigung?

 

 

Die Alte Mühle also, Anlaufstation bei Gesprächs- und Alkoholunterversorgung. Eine andere Lokalität kam nicht in Frage.

Reinhard, der Wirt, hatte Rita absichtslos desinteressiert angeguckt und sein „Wie immer?“ abgesondert. Da er keine Antwort bekam, zapfte er drei halbe Liter. Rita nahm ihren Humpen und stürzte den Inhalt in einem Zug runter. „Wie in alten Zeiten“, keuchte sie.

„Gedeck?“ fragte Reinhard, der einen guten Schnitt witterte; die Dame hatte Stil.

„Lass gut sein.“ Diedel winkte ab.

„Ruhe jetzt“, unterbrach Jerry den Wildwuchs der wohlabgewogenen Argumentationsketten.     

„Kumpanen des Halbwissens! Verplänkeln wir nicht unsere Zeit.“ Ja, ja, Jerry gab den Wortführer, wie damals, die alten Gepflogenheiten brachen wieder auf. Gleich würde der Drummer wutentbrannt die Sticks auf die Snare pfeffern und mit einem „Lecktmichdoch“ aus dem Übungskeller stürmen. Wegen Rita. Die wieder einen ihren Vertrackt- und Verschlungenheitssprüche losgelassen hatte und ihn nicht an ihre Unterwäsche ließ. Das letztere als unausgesprochener Hauptgrund.

Halt! Jerry schüttelte sich wie ein Straßenköter, der einen Haufen Flöhe loswerden wollte. Erinnerungen, nichts als Erinnerungen. Hier, in der Alten Mühle, sumpften ja nur noch die Relikte einer glorreich erfolglosen Rockband in ihren Erinnerungen herum. Diedel der Säufer, Rita mit einem ehelich angetackertem Macker, Jerry.      

Erhabene Schönheit

 

Also sprach Rita: „Wohin hat es eigentlich deine Trudenschwestern Hiltrud und Gertrud verschlagen, das lüsternheitliche Gespann unvergorener Emanzipationslaunen, das Vaginalgebet am Tische derer von Hoffnung und Gier, denen die Last der jungen Hormone lattengleich durchgebogen durchs Gehirn grieselt?“












        



Lattengleiches Grieseln

Jerry überlegt eine Weile. Was wollte Rita damit sagen? Legte sie Wert auf den ersten Teil ihrer Aussage, der Frage nach dem Verbleib seiner Schwestern, oder wollte sie in ihrer typischen Schwurbelrhetorik nur eine Art Statement abgeben, welches den Kern der Dinge wie noch stets oder früher sowieso vernebelte?

„Darauf kannst du einen lassen.“ Grunzt Reinhard vom Zapfhahn.

„Bei Frankfurt“, sagt Jerry.

„Was bei Frankfurt?“

„Die leben bei Frankfurt. Eine ist mit einem Studienrat verheiratet, drei Kinder. Die andere, das muss wohl Hiltrud sein, betreibt ein Bräunungsstudio.“

 „Wieso das muss wohl Hiltrud sein? Weißt du das nicht“

Diedel mischt sich ein: „Der weiß gar nichts.“

„Eben“

„Wie immer?“ Reinhard wittert seine Chance.

„Wie immer!“

Pause.

Schweigeminute für Jockel.

„Habe ich erzählt, dass ich mal mit dem Ausrufen von Schweigeminuten mein Geld verdient habe? Sogar in einer Sauna.“

Rita stöhnt auf. „Hast du. Und wie es der Teufel will, weiß ich sogar, dass du Gitarre spielst.“

„Ein guter, ein klarer Satz.“ Sagt Reinhard.

„Ein Fortschritt für die Menschheit.“ Sagt Diedel.

„Ein bedauerlicher Kotau.“ Sagt Jerry.

„Ein Ende allen Gebärens?“ Fragt Rita.

„Ein Ende“, sagen alle, „ein Ende ist ein Ende.“

 


Oder auch nicht, dachte Jerry, als er wieder zu Hause war und seinen Laptop öffnete. Es geht doch wie immer um die letzten Dinge, um die Essenz des Weltenlaufs in der Abgedroschenheit von Raum & Zeit, Hier & Heute, Jesus & Maria, Kaffee & Kuchen, Dick & Dünn, Alles oder Nichts, Mehr oder Weniger und dergleichen mehr (Jerry nahm sich vor, die geläufigen Wendungen des Gehaltlosen & Banalen zu sammeln und komprimiert ins Internet zu stellen. Aber das war ein anderes Thema, von der wir (wir?) aus Platzgründen absehen wollen.)
Farbtafel für Farbenblinde



Diese (s. o.: letzten Dinge & Essenz & so weiter…) darzustellen würde er sich zur Aufgabe & Pflicht machen. Tag für Tag, Beispiel für Beispiel, Notiz für Notiz, Einer für Alle usf. Aus dem Konglomerat aller ihm verfügbaren Nachrichten würde er die Granulatkügelchen des Wesenhaft & Windigen herausfischen und bündeln: nach Bedeutungstiefe, nach repräsentativer Ergiebigkeit, nach persönlicher Betroffenheit. 

Schlaglicht werde ich es nennen, beschloss Jerry, oder einfach Tagticker, nee, nur Ticker. Bereits die erste Zusammenstellung bestärkte ihn in seinem Vorhaben, denn eins war klar: Hier stanzte sich ein literarisches wie auch psychogrammatisches Kerbholz in das Gedächtnis der Nation. Nichts weniger, rief Jerry enthusiasmiert.

Hey, dachte er wenig später in nicht nachlassender Froh- statt Übellaunigkeit, dieses Geschäft wird mir zur Ehre und Gelassenheit reichen und nebenbei die bedrückten Stunden meines schlimmst anzunehmenden Rentenelends versüßen.

 

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Der Landwirt brach in Tränen aus

26.06.2007

+++ Pastor Anton Häberle aus Esslingen weiß auf die Frage eines Konfirmanden, warum es einen Gott gibt, keine Antwort.

+++ Frau Findeisen aus Langenhagen behauptet in einem Zeitungsartikel, sie sei Weihnacht 99 ins Koma gefallen und könne seitdem ihren rechten Arm nicht mehr bewegen. Den linken auch nicht.

+++ Frau Gottschalk (Neustadt) verbrennt beim Räuchern einer Makrele ihren Rentenbescheid. Das Leben sei praktisch nichts mehr wert, schreibt sie in einer SMS.

+++ Dem Autofahrer Sven Marco Grützner wird auf der Polizeiwache angekreidet, er sei auf der Ost-West-Straße zu schnell gefahren, habe gedrängelt, und im Elbtunnel habe er eine Zigarette aus dem Fenster geworfen. Nun ja, argumentiert Grützner lautstark, er sei halt in Harnisch geraten.

+++ „Es kommt mir so vor“, ruft der Bürgermeister K. von P. nach W., „als habe das Z. gegenwärtig kein G. im V.“ Das läge an den Vokalen, flüstert ihm seine Sekretärin B. zu.

+++ In der Straßenmeisterei fehlt es an allem. (Aus einem internen Bericht einer Stadtverwaltung)

+++ Dem Sängerkreis des Shantychores einer an der Nordsee anrainenden Stadt ist der jugendliche Shantysänger Dennis Mahler beigetreten. „Da hat man uns einen falschen Hasen untergejubelt“, murren die anderen abends beim Bier.

+++ Der Grenzübergang Nieuwe-Schans zu den Niederlanden ist mit Haschisch gepflastert.(Klage einer Anwohnerin)

+++ Der Stationsarzt Dr. Schwabe (Hildesheim) setzt gegen 11 Uhr eine Kanüle an den Hals des Patienten Eduard Pennigroth, damit dieser am Saft des Lebens teilhaftig werden könne.

+++ Die Lehrerin Sabine Mackental (ebenfalls Hildesheim) erlitt vor der dritten Klasse einen Triefaugenvorfall. Klassensprecher Jonas Backer berichtet, dass das linke Auge triefte. Richtig muss es heißen: Es troff. Die Ursache bleibt hiervon unberührt, antwortet der Amtsarzt.

+++ Eine Kuh wird auf der Autobahn A 27 gesehen, so gegen 15 Uhr. Daraufhin verlangt der zuständige Bauer Enno Ennen eine Subventionserhöhung. Schließlich würde er einen materiellen Schaden erleiden.

+++ „Ich bin homophil“, sagte ein Fußgänger (Zentrum Filderstadt). „Ich weiß“, sagte der Entgegenkommende und wich ihm aus dem Weg. (Aus dem Telefonat einer Augenzeugin)

+++ Herr Kalkhofer aus der Elbingerstraße 51 hat schon wieder keine Rundfunkgebühren gezahlt. Obwohl sich die Nachbarn zusammenrotten. Sie wollen jetzt eine Ausschreitung verabreden.  

+++ „Die Ausländer sind das Wurzel an der Übel.“ Dies habe ein Neonazi über den Marktplatz von Malchow gebrüllt, behauptet der pensionierte Lehrer Ewald Punke, Anwohner.

 

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Gesichter eines Lebens

           

 Jerry McTeshy                                      Jerry McTeshy                                     Jerry McTeshy                                     Jerry McTeshy

 

 

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