Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 41

 


 

Die Wölbung der Werte

 

Vergriesgrämt und übelgelaunt bäumte er sich auf im Kampf gegen die Furien der Erkenntnis: der Konditor Sigismund Ruck, gefangen im Geruchszentrum von Karamell und Krokant. Mit bäuchiger Schubkraft stemmte er sich gegen den giftgeifernden Schwarm der Gedankenpfeile, die von überall herbeizuschießen schienen. Doch wie er sich auch bäumte und bäumte, die Schwadron der Erkenntnis gewann die Oberhand und keilte den Siegerfuß in die karierte Bäckerhose. Nunmehr, so klagte der Ruck Sigismund noch während des Zusammenbruchs seiner Mentalitäten, nunmehr seien die Werte gewölbt. Damit sei alles verraten und verratzt und das Ende besiegelt in Ewigkeit Amen.

Gewölbte Werte! Das Undenkbare war eingetreten.

Sigismund Ruck riss die Bäckermütze vom Schädel und stürmte nach draußen in den Sommergarten, wo sich die Kaffeegäste auf dem Gestühl des Wohlbefindens labten, ab und an gestört von einer Königswespe. Die surrte von einem Tisch zum anderen, um der Sachertorte, dem Baiser und dem Mohnstriezel ihre Aufwartung zu machen.

„Ich habe es nicht gewollt“, beteuerte Backfachmann Sigismund mit mehligem Tremolo, „doch die Würfel sind gefallen und die Werte als gewölbt zu betrachten. Zimt und Zichorie sind gewesenes Dasein.“
Auch das noch!

Ein Gast – schwerfällig wie ein Seelöwe im Wams seines Winterspecks – erhob sich keuchend und öffnete den Mund zum Zwecke des Widerspruchs. Noch allerdings ging kein Aufatmen durch die Schar der Kuchenfresser. Noch war das Unfassbare nicht zermalmt, nicht geschreddert von den schwirrenden Säbeln des rhetorischen Gemetzels, welches der schwere Kaventzmann anhub zu entfachen. Hoffnung, einig Hoffnung kroch klamm über die Tischdecken und versuchte mit mangelbehaftetem Erfolg, den Angstgeruch von Jauchekot und Schwalbenschiss zu übertünchen. Und noch immer verhinderte das beredtlose Stummschweigen des Schwergewichtigen einen verbalen Vernichtungsschlag und damit ein allseits befreiendes Triumpfgehänsel über den Hiobsbäcker. Würde der seelöwige Gast, Dr. Dr. Dominikus von Rabenzahn, Professor für Poetologie, es schaffen, einen pfundigen Rumpelschlag gegen das ungeheuerliche Diktum des Konditors mit dem Glatzkopf herauszupressen, würde er einen borstigen Thesenstrunk aus seinem Schlundloch reihern, würde er die Wölbung der Werte in Grund und Boden rabulieren?

Voreilig, zu voreilig gar ging ein Raunen durchs Fresserparkett: „Seht das blutge Mahngericht.“

Ha, da lachte der Konditormeister auf. Zynisch winkte er die Königswespe herbei. Mit dem Schlagfinger stieß er in die Richtung des Aufsässigen, des Widermüpfigen, des zu schändlicher Abkehr bereiten Dr. Dr. von Rabenzahn. „Dort hinein“, befahl der Bäckersmacker, welcher die Werte als gewölbt ausgab kraft seiner ihm zugestoßenen Niederlage in der Schlacht gegen die Furien der Erkenntnis.

Und die Wespe folgte dem Ruf des herrischen Backmenschen. 

In schurgerader Bahn schnellte sie vor, jagte wieselscharf entlang der Parallelachse des Schlagfingers; zielschnell und gradlebig schoss sie hin zum Offenmaul, zur Gurgelschwärze, zum Gaumenkrater des doppelten Doktors, dem die Schwerfälligkeit zum Fatum seines elenden Wichtigtums wurde.

 

Hinein sirrt die Wesp ins Dunkel,

die Zung erschwillt beim Stich,

hinweg- und fortgepiesackt

ist der erste Doktorus

mit seinem Protzgedöns!

Jetzt gehets in die tiefe Kehl,

und das zweite Doktorfalsch

wird als Opferlamm

ausgemacht und abgestecht.

Blank stiert der Dominikus

ins Grau des Nichts,

beraubt all seiner Titel.

Und die Fresser draußen

stöhnen auf und brechen Galle.

 

Freilich, das war noch nicht des Infernos letzter Hiebschlag. Ins Freie pfiff nun – bar jeder Contenance – die Kaltmamsell im Flatterstoß ihrer Kittelschürze. Und das Gesinde folgte philiströs, einzig, um der Wölbung der Werte mit dem flagellantischen Geschmack der Unterwürfigkeit zu schmeicheln. Ein Fest der Brüderschaft der Lakaien sollte es werden, aber es wurde ein Fest der Verblendeten und Verdummlichten! Denn sie selbst, die Domestiken aus ihren Gruftlöchern drunten in der feuchtschwitzigen Krypta der Backstubenkatakombe, sie feierten nichts anderes als den Eigentod, der sich hinter einer Verheißung verbarg und der sie ihre Hoffnung geschenkt hatten, und die Verheißung lautete: Die Werte werden gewölbt auf immerdar.

 

 

„Das findet meinen Beifall nicht“, sagte Diedel, „warum schreibst du nicht mal was Vernünftiges, kannst du doch, hast doch jede Menge Sachbücher geschrieben, irgendein Zeug, was die Leute verstehen, was Realistisches, zum Beispiel eine lustige Urlaubsgeschichte mit Verwechslungen, Koffertausch, Liebesturteln in den Dünen und sowas oder auch mit Familienstreit, Eifersuchtsszenen, Pubertätsproblemen der Kinder, ein dementer Opa, Beziehungsdramen, überhaupt Beziehungskonflikte plus Seitensprünge plus Sexszenen der perversesten Art, sowieso das Wichtigste, wo sind überhaupt deine Sexszenen heh? und was weiß ich was nicht noch alles, was so eben vorkommt in den richtig guten Romanen und was alle Schreiberlinge tun und die damit ihre Kröten verdienen, goldene Kröten sag ich nur, guck dir die Bestsellerliste an, oder versuch‘s mit der alten Erfolgskiste von wegen der verlorenen Jugend, Reifungsprozesse und sowas oder Mensch noch mal, klau ersatzweise ein Thema eines prämierten Schriftensetzers von irgendeiner Buchmesse, bastel deinen eigenen Kram daraus und ab geht die Lucie, bei deinem Talent, Prost erstmal.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dazu auch der Kommentar unserer beiden Philosophen

 

SCHLOTTERDICK & ZERFRANSKI

 

Schlotterdick: „Metaphysisch gewendet gelingt hier die Entschleunigung des Nomen eines Topos der Dignität frag-würdigen als auch frag-mentierten In-die-Welt-Fallens mit internal komplexiv erworbenen psychischen Apperzeptionen, die schon Wilhelm Dilthey vorwegnahm, indem er die Gleichheit und das Ganze als Adäquation erlebbar zur Objektvorstellung verknüpft hat.“

Zerfranski: „Aber nicht nur!“

Pressespiegel

 

„Fabelhaft, fabelhaft, fabelhaft!“

Abendzeitung

 

 

 

 

 

 

 

„Eine Story voller Gefühle, voll raffinierter Grimassen, voll bis an den Stehkragen mit Glamour, Zuckerguss und Petitesse.“

Süddeutsche Zeitung

 

 

 

 

 

 

 

„Backwerk zum Abgewöhnen. Hier wird die schaurige Wahrheit der Konditorhosen ans Tageslicht gezerrt. Das heuchlerische Weißmehl-Image zeigt seine wahre Fratze. Gehört auf den Hackklotz jeden Metzgers.“

Fleisch-Magazin

 

 

 

 

 

 

 

„Ein langer Satz“, sagte Reinhard hinter dem Zapfhahn, „lang, wahr und wichtig.“

 



„Nun leckt mich doch kreuzweis.“ Jerry wurde stinkig. Rita war vor vier Tagen mit ihrem Macker Karl-Heinz abgereist, um die Kinder bei den Großeltern auszulösen, wie Rita süffisant anmerkte. Jerry, noch benommen von ihren Sprüchen, hatte sich voller Elan auf seinen Laptop gestürzt, angestachelt auch von des Weibes Lockgerüchen, wie er sich gespreizt schamlos eingestand. Der Text ‚Wölbung der Werte‘ war ihm regelrecht aus den Fingern geschäumt, ungebremst, so wie früher bei seinen Songtexten für die Band, und er hatte zusätzlich noch einen Schreibblock neben den Rechner gelegt, um die einstürzenden Ideen zumindest mit bruchstückhaften Skizzen festzuhalten, ein Rausch, ein wüstes Ritschratsch, und nachher war er volltrunken ins Bett gefallen, da war das Sixpack alle und die Whiskyflasche halb leer, auch wie früher.

„Hatte ich erwähnt, dass ich die Story Rita gemailt habe?“ Jerry riss sich zusammen und bemühte sich um einen moderaten Ton.

„Hat er nicht“, sprach der Rest der Kneipencommunity als da waren Reinhard und Diedel. Simultansprech, wie im Theater.

„Dann lest mal, was sie mir geantwortet hat. Hab es ausgedruckt.“

„Kein Bock.“

„Gut, ihr Schmelzhirnis, dann lese ich es eben vor.“ Jerry faltete einen DIN-A-4-Bogen auseinander und las, das heißt, er sagte einen Text auf, und der ging so: „Ich könnte jetzt einen Text vorlesen und dann irritiert innehalten wegen des seltsamen Inhalts, der überaus komisch klingt und so gar nicht passt, und dann würde ich vollkommen überrascht feststellen, dass ich die Rückseite des Blattes vorgelesen habe und der Text gar nicht von Rita ist, und dann würdet ihr lachen über den Joke, und das wäre doch ganz nach eurer Vorstellung eines Romaninhaltes mit lustigen Verwechslungen, wie in einem Bestsellerroman, ist es so?“

Reinhard stellt ungefragt drei halbe Liter auf den Tresen.

Wie immer.

Diedel stürzte seinen Halben in einem Zug herunter und rülpste. Wie es der Verhaltenscode der Beklopptesten der Stadt erforderte, stemmte er seinen zweiten Humpen, prostete Jerry zu und formte gebildete Worte, um ein gewisses Rätsel zu lösen. „Was war das jetzt“, lautete die Botschaft aus gedüngter Kehle, „war das Ritas Brief oder was?“

„Genau“, kam es vom Zapfhahn, „was war das?“

„Dreimal a im Satz?“ gurgelte Jerry, „ist hier die Vokalharmonie ausgebrochen?“ Er stürzte ebenfalls seinen Halben herunter.

„Wie immer?“

„Wie immer!

Wohlklang aus zwei Kehlen, Simultansprech vom Feinsten.

 

 

 

 

 

 

„Sprachwahn, ingrimmige Wortkanonaden, schwerzüngelnde Dialoge, Tiefstgang, prasselnde Metaphrasen, gurgelnde Laute – kurzum: Literatur.“

Die Zeit

 

 

 

 

 

 

„Der erste Teil: Wahnsinn.“

Emder Kurier

 

 

 

 

„Geschrieben mit den vor Staunen weit aufgerissenen Augen eines Unschuldlammes. Nobelpreisverdächtig.“

Nordfriesisches Anzeigenblatt

 

 

 

 

„Der zweite Teil ist viel besser.“

Back & Brot

 

 

 

 

„Der dritte Teil ist noch viel besser.“

H. Karasek in Spiegel Online

 

 

 

 

 

„Dritter Teil? Da hat sich H. Karasack wohl verzählt.“

Back & Brot

 

 

 

 

„Dagegen ist der Wortstammler Peter Handke ein Dünnschiss gegen.“

Kroatische Volksstimme

 

 

 

 

 

„Eine Suchtfalle. Die Gegenwart wird als Verzauberung inszeniert jenseits aller Moden der literarischen Großmäuligkeit. Ein Sog, ein Hypnoserausch in wortgewaltigen Bildern. Wäre zum Schluss nicht ein Feierabend notiert, würde der Leser nie wieder aufwachen.“

Die Welt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Kult. Ein Inferno der zartesten Sensibilität. Wer dieses Buch gelesen hat, kann keine Mücke mehr an die Wand klatschen.“

Svenska Dagbladet

 

 

 

Erst nachdem die drei Nachschubhumpen auf dem Tresen standen, bequemte sich Jerry zu einer Antwort: „Statt einer Antwort das hier: geschecktester wohlfahrtsempfänger, die von dir zusammengeschraubten konvulsivisch ungeordneten und allzweckfeindlich gestimmten drähte der kommunikation sind/wurden/waren/werden mir nicht nur nicht entgangen sondern im rest des tages unter die haut geschleudert wie teufelsbrand und sauerbier, will sagen, dieser deinige als fiktiver text zu entlarvende PATHOLOGIALKNAXX…“

„Das ist Rita herself“, schrie Diedel, „bekloppter geht’s nimmer.“

„Und alles kleingeschrieben“, nickte Jerry nicht ohne Stolz im Stimmstock.

Auch Reinhard beteiligte sich mit einer Rezension zur aktuellen Diskussion. „Die Mail ist ja wohl noch kaputter als deine Story von der Wölbung der Werte. Ihr solltet euch zusammentun und ein Institut für geisteskranke Pseudoliteraten aufmachen. Oder Workshops anbieten, Thema: Wie schreibe ich mein Gehirn in die Sülze.“

„Oder noch dämlicher“, wieherte Diedel, „wie schreibt man Bier mit Blöd im Dödel?“

„Gut geblökt, aber das ist erst der Anfang“, knurrte Jerry, „denn der zweite Teil des Workshops lautet ja wohl: Wie kommt das Blöd in den Diedel.“

Sie stießen an, Reinhard mit einem Wasserglas, alle drei hocherfreut über die Wendung der Worte.

 

„Gesetzt den Fall“, quallte Jerry mit biergesalbtem Tremor, „ich würde mich auf Diedels Vorschlag einlassen. Die Eingangssequenz des Romans könnte dann ein Treffen alter Freunde sein, die sich lange nicht gesehen haben, die während ihrer Schulzeit und noch danach viel Scheiß zusammen gemacht haben, eine Rockband gegründet, abseitige Kunstausstellungen, Lesungen von absurden Texten und sowas eben. Anlass des Treffens könnte die Beerdigung eines gemeinsamen Weggefährten aus besseren Tagen sein.“

 

„Kommt mir bekannt vor“, brummte Reinhard.

 

„Kschsch“, zischte Diedel, „Jerry hat was am Haken.“

„Bei dem Treffen keimen verschüttete Gefühle der Protagonisten wieder auf, Reminiszenzen, sentimentale Erinnerungen.“

„Und jeder Satz fängt mit weißt du noch an.“

Jerry winkte unwirsch ab. „Da gibt es die ehemalige Klassenschöne, hinter der alle her waren, die aber nur Interesse für kaputte Typen aufbrachte. Mit denen freilich ging die Post ab, mein lieber Schwan.“

Jerry brach bei dieser Vorstellung der Schweiß aus. Diedel guckte verkniffen.

„Die wichtigsten Hauptfiguren nenne ich der Einfachheit halber Diedel, Rita und Jerry. Nur so als Arbeitsnamen. Zwischen Jerry und Rita bahnt sich was an.“

„Wieso zwischen diesen beiden?“ unterbrach Diedel misstrauisch, „hab ich da was verpasst?“

„Ist doch nur eine Fiktion, ein Romanentwurf. Also weiter. Die Beerdigung hat verschüttete Empfindungen zwischen ihnen aufbrechen lassen. Rita ist inzwischen bürgerlich verheiratet mit zwei Kindern, aber die Routine ihres Ehelebens hat die Gefühle der Eheleute füreinander abflachen lassen. Kennt man ja aus den einschlägigen Romanen und Filmen. Kurzum, ihr fehlt was im Leben, etwas Existenzielles.“

„So wie bei einem halbgefüllten Glas Bier“, sagte Reinhard, „da fehlt auch was, was Existenzielles.“

 

Turtelnd tänzelte Napoleon durch die Tuilerien

 

„Nach der Beerdigung, beim Leichenschmaus im Friedhofcafé, zieht es Rita und Jerry in ein langes, tiefes Gespräch, welches sie blind macht für die Umgebung. Sie merken nicht einmal, dass die Stühle schon auf den Tischen stehen und die Lichter erlöschen. Hier werden zarte Bande gesponnen, die sich zu einem intimen Netz der Übereinstimmung verdichten. Zwei Tage voller Gespräche, Bekenntnisse und des glückhaften Zusammenseins folgen, und keine Sekunde bleibt ungenutzt. Wird natürlich in den facettenreichen Einzelheiten ausgemalt. All die Details und Dialoge zielen unterschwellig auf einen Umbruch hin, auf eine Wiedervereinigung gleichgestimmter Seelen, auf die späte, aber nicht zu späte Erfüllung verdrängter Träume. Die Gefühle borden über, das meint, sie überborden die eingesprengselten Argumente der Vernunft. Na gut, eingesprengselt trifft es nicht ganz, jedenfalls löst der Konflikt zwischen Vernunft und Trieb beim Leser Neugier und eine beklemmende Ahnung aus. Ein Drahtseilakt, bei der das bisherige Eheleben auf der Kippe steht. Lassen die beiden sich zum Letzten hinreißen? Es wird natürlich nur angedeutet, aber die Flammen der Leidenschaft scheinen zu überwiegen. Die Spannung wird noch dadurch angeheizt, dass ein weiterer Bewerber um Ritas Gunst stets mitmischt: Diedel, der Exrockgitarrist, der mit seiner direkten Art schon auf der Beerdigung bei Rita punkten kann. Das als Nebenstrang.“

 

„Aha“, sagte Diedel, „Nebenstrang.“

 

„Ruhe jetzt, ich muss mich konzentrieren.

 Also

wir steuern

auf den ersten Höhepunkt

zu.

Wird Rita, denn diese Erwartung wird beim Leser geschürt, wird Rita dem Hochjauchzen ihrer Gefühle nachgeben und sich für Jerry entscheiden, wird sie seinetwegen Beruf, Wohnung und Familie verlassen? Wird andererseits Jerry seine Ehe aufgeben und ein neues Leben mit seiner alten Jugendliebe anfangen? In einer schlaflosen Nacht wird ihm klar, dass er dazu bereit ist. Denn seine alte Jugendliebe hat in ihm Lebenssinn und Inspirationen freigesetzt, die ihm die Ehe und die Kneipenkumpel niemals bieten können.“

 

Nach dem Klistier ist vor dem Klistier, dozierte Karl Marx

 

Diedel bockte. „So langsam wird mir das aber zu realistisch. Das rutscht dir ja raus, als würdest du eigene Erlebnisse wiedergeben. Und uns haust du praktisch in die Pfanne, nur um einen Plot daraus zu stricken. Einen Plot nennt man das doch, oder?“

„Wie meinst du das?“ fragte Reinhard stumpf.

„Apropos Plot“, nahm Jerry das Stichwort auf, „ein guter Einwurf. Denn nun kommt es zum ersten Plot Point.“

„Ein Plot Point?“ Reinhard hatte aufgehört, die Gläser zu spülen und sich zu ihnen gesellt.

Jerry hob die Stimme auf Oberlehrerniveau: „Das ist eine dramatische Wendung im Geschehen. Um den Leser aufzumischen. Kennt man aus allen Bestsellern und überhaupt aus allen spannenden Filmen, jedenfalls aus den amerikanischen. Jetzt wird etwas passieren, was die Fortsetzung der Handlung schlagartig unterbricht und in eine andere Richtung treibt. Etwas Dramatisches. Das ist ein Plot Point.“

„Krebs“, sagte Reinhard, „Brustkrebs. Rita muss sich eine Brust wegoperieren lassen.“

„Nicht schlecht“, sagte Jerry und warf einen verwunderten Blick auf den Gastwirt, „ausgerechnet Rita, die Klassenschöne, trifft es. Nachdem sie sogar beide Brüste verloren hat, schließen sich ihr Ehemann, Macker und Langweiler Karl-Heinz und die beiden Kinder enger an sie und betreuen sie mit rührender Fürsorge. Da ist Jerry natürlich raus. Für ihn bricht eine Welt zusammen, und er ergibt sich erstmal dem Suff.“

„Erstmal ist gut“, grinste Reinhard, „wie immer?“

„Wie immer.“

Die kurze Unterbrechung nutzte Diedel für einen Toilettengang. Früher hätten sie ihm Schülerblase oder was? hinterhergerufen, aber diese Zeiten waren auch vorbei.

 

Hitler häkelte ein rosa Herz in sein Leibchen

 

Jerry nahm den Faden wieder auf: „Der Schicksalsschlag aber hat in Ritas Empfinden und Denken etwas in Bewegung gesetzt, dass sie nicht zurückdrängen kann. Es ist der Prozess der Ich-Findung, der hier in den Roman eingewoben wird, ein aktuelles Element, der vor allem die Esoteriker ansprechen wird. Rita sucht die Begegnung mit sich Selbst, und diese Begegnung kann sie, das ist ihr in der Reha-Klinik klar geworden, nur in völliger Einsamkeit erfahren und aushalten. Sie fasst den Beschluss, ihr bisheriges Leben aufzugeben und in ein Kloster zu ziehen.“

„Wie war das?“ rief Diedel, „Rita und Kloster? Was für eine Schmonzette! Jetzt treibst du es aber wirklich zu weit.“

Auch Reinhard schüttelte missbilligend den Kopf. „Ja, ja, und Jerry gibt sich damit nicht zufrieden, er ermittelt ihren Aufenthaltsort, fährt hin und holt sie aus dem Kloster raus, und dann fliehen sie nach Spanien und leben auf einer Ökofinca, und dann kommt wieder so ein Plot Point hineingeschossen, der alles zunichte macht, wie wär’s mit einem Tsunami, Rita wird ins Meer gerissen, Jerry sucht sie verzweifelt, monatelang, er gibt auf, kehrt nach Deutschland zurück und vergeudet, vollständig um den Verstand gebracht, seine Tage als Obdachloser, da stelzt in Köln vor dem Hauptbahnhof eine krass geschminkte Dame vorbei, eingekleidet mit Chinchilla, Vuitton-Handtäschchen und zwei Zwergpudel an der Leine, sie steigt in einen wartenden Porsche Panamera mit getönten Scheiben und dem Nummernschild Ma – fia – 001.“

Diedel hatte begriffen. „Und dann“, klinkte er sich in die Story, „kommt es zur Schießerei aus einem nachfolgenden schwarzen SUV. Der Panamera schleudert, kippt um, Jerry springt hinzu, reißt die Tür auf und zieht die blutende Dame aus dem brennenden Wrack, und da erkennt er sie, spürt ihren vertrauten Geruch, spürt die Abwesenheit voluminöser Brüste: Es ist seine verschollene Rita, die er in den Armen hält. Später, nachdem er sie aus dem Kugelhagel und dem Gemetzel der rivalisierenden Mafiaclans in Sicherheit gebracht hat, erfährt er von ihrem Schicksal. Der Tsunami hatte Rita an die sizilianische Küste gespült, direkt vor die Füße von Dino, dem Boss des mächtigsten Clans vor Ort. In den Fängen dieses brutalen Schergen hatte sie keine Chance, und sie wurde seine Skalvin, Transvestitin und Drogenkurierin.“

 

Thomas Mann stopfte Hasenkötel in das Schlüsselloch

 

„Mannomann“, keuchte Jerry, dem unbehaglich wurde, „das muss ich Rita mailen.“

„Wart erst mal ab“, Reinhard übernahm die Fortsetzung der Story, „der nächste Plot Point ist noch nicht abgehakt.“

„Ja zum Teufel“, unterbrach Diedel, „wieviele Plot Points kommen denn noch vor? Irgendwann muss doch Schluss sein.“

„Ein Schluss, und erst recht ein Happy End, kommt ausschließlich in Romanen vor. Wir aber leben ja noch weiter. Das bedeutet, dass bis zu unserem Ableben immer wieder Plot Points auf Plot Ploints dazwischenfunken, und dass es bis dahin logischerweise keinen Abschluss geben kann.“

“Wieso wir?“ fragte Diedel extravagant, „hier geht es um fiktive Figuren, die unseren Namen tragen. Fehlte nur noch, dass der Roman-Jerry anfängt, einen Roman zu entwerfen, bei dem die Romanfiguren ebenfalls die Namen der eigentlichen Romanfiguren tragen, also mit eigentlich meine ich, ach shit, da blickt doch keiner mehr durch.“

Jerry versuchte wieder einen Fuß in das Gespräch zu bekommen. Er wandte sich direkt an Reinhard: „Sag mal, wovon lebst du eigentlich?“

„Heh“, sagte Reinhard schlau, „soll das jetzt ein Plot Point werden, der das Entwerfen unseres Romanentwurfs in eine andere Richtung lenkt?“

Jerry blieb stur. „So viel ich hier ausmachen kann, sind Diedel und ich die einzigen Kunden, und das seit Tagen schon.“

„Neue Öffnungszeiten“, erwiderte der Gastwirt knapp.

 

                „Wie immer?“ fragte Diedel.

 

                                     „Nix wie immer, Feierabend.“

 

 

 

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