Hans Joachim Teschners
Lebens-Quark 30
Seinen tausendseitigen Historienroman –
oder
Der in Bernstein eingelegte Mops
mit den goldenen Arschbäcklein
– hatte Jerry unmittelbar nach Fertigstellung des Abspanns dem Reclam-Verlag zugeschickt mit der Empfehlung, den Roman nicht etwa als broschierten Folianten unter die Leute zu bringen, sondern jedes der 14 Kapitel einzeln zu veröffentlichen in Form der berühmten gelben kleinen Reclamheftchen
Dies, so schrieb Jerry als Belehrung und Fingerzeig, würde die Bändchen im aktuellen deutschen Morast des literarischen Selbstfindungs- und Befindlichkeitsgewinsels mit ihren unverdaulichen Psychowälzern herausheben wie funkelnde Brillanten auf dem Grabbeltisch von Talmi & Consorten.
Auf die Idee, einen Jahrhundertroman in handliche Häppchen aufzuteilen, um sie – speziell für Gymnasialzwecke – zu servieren, müsse einer erst kommen, und ohne Aufschneiderei könne man (d. h. Jerry und der Verlag) solcherlei Vorgehen als Alleinstellungsmerkmal und somit Marktvorteil für sich reclamieren (!); eine Marketingstrategie, bei der die Konkurrenz in 14 Zügen schachmatt gesetzt und auf die Kellertreppe der Düpierten geschleudert würden.
In das Postskriptum trug Jerry nonchalant ein, dass er den Vorschuss auch gerne Heft für Heft entgegennehmen würde.
Nun begab sich dummerweise etwas, dass den Erfolg der Maßnahme in Frage stellte. Vatter Bols, der verdammte Köter des Jerry, hatte das einzige auf der Schreibmaschine getippte Manuskriptexemplar zerfetzt. Der Packen Papier hatte in Höhe der stets wissbegierigen Hundeschnauze auf dem Teetisch gelegen, neben den Butterkeksen ein gutes Stück Beißarbeit. Übriggeblieben waren nur zerrissene, angekaute und speichelfeuchte Blattfragmente.
In Anbetracht dieses betrüblichen Umstandes muss es hier leider zu einer Aktualisierung des Geschehens kommen, um der Realität gerecht zu werden.
Hier ist sie:
Im Originalfont: Jerry stellt in monatelanger Arbeit einen Roman fertig. Geschrieben auf einer antiquarisch zu bezeichnenden Schreibmaschine (Adler). Nach Abschluss des letzten Kapitels legt Jerry den Blätterhaufen auf den Teetisch. Vatter Bols kommt hereinspaziert und nimmt eine Fährte auf. Die gesuchte Beute liegt in Höhe seiner Schnauze. Butterkekse werden zerkrümelt. Sie finden ihren Weg in den Hundemagen. Danach werden Manuskriptseiten zerfetzt sowie angefeuchtet, nicht aber verschlungen. Jerry schreibt ein Angebot an den Reclamverlag (s. o) und fügt ein paar Beispielseiten bei, auf denen Textkolumnen zu entziffern sind. Eine Antwort des Verlages bleibt bis heute aus. |
Vereinfachte Schrift für Leseanfänger: Jerry stellt in monatelanger Arbeit einen Roman fertig. Geschrieben auf einer antiquarisch zu bezeichnenden Schreibmaschine (Adler). Nach Abschluss des letzten Kapitels legt Jerry den Blätterhaufen auf den Teetisch. Vatter Bols kommt hereinspaziert und nimmt eine Fährte auf. Die gesuchte Beute liegt in Höhe seiner Schnauze. Butterkekse werden zerkrümelt. Sie finden ihren Weg in den Hundemagen. Danach werden Manuskriptseiten zerfetzt sowie angefeuchtet, nicht aber verschlungen. Jerry schreibt ein Angebot an den Reclamverlag (s. o) und fügt ein paar Beispielseiten bei, auf denen Textkolumnen zu entziffern sind. Eine Antwort des Verlages bleibt bis heute aus. |
Vielleicht hatte ich mir zu viel vorgenommen, dachte Jerry nach einer Karenzzeit des Hoffens und großspurigen Auftrumpfens von ca. 10 Monaten. Vielleicht sollte ich mich mit der kleinen Form bescheiden.
Jerry allerdings wäre nicht Jerry gewesen, wenn er sich mit irgendeiner kleinen Form ‚beschieden‘ hätte. Nein, es musste die kleinste literarische Form überhaupt sein. Und eine der kleinsten Formen, die Jerry vorfand, war die der Haikus.
Ein Haiku hat nur drei Zeilen. Die traditionelle Silbenvorgabe 5 – 7 – 5 wird nicht mehr strikt eingehalten. Es gilt eine einfache Regel, und die auch nicht konsequent: Erste Zeile kurz, zweite Zeile länger, dritte Zeile wieder kurz. Mitunter ganz kurz.
Das passte.
Zur Einübung in das Metier nahm sich Jerry das berühmte Frosch-Haiku vor, geschrieben von dem Meister Matsuo Bashō (1644 – 1694). Auf japanisch sieht das so aus:
古池や
蛙飛び込む
水の音
Transkribiert wird man auch nicht schlauer:
furu ike ya
kawazu tobikomu
mizu no oto
Mmmmh.
Nun, niemand braucht des Japanischen mächtig zu sein, um das Frosch-Haiku zu verstehen, denn es haben sich schon viele Übersetzer daran versucht. Eine der Varianten gefiel Jerry besonders:
Uralter Teich
Ein Frosch springt hinein
Plop
Hey, dachte Jerry, das kann so schwer nicht sein. Um sich für das Haiku-Dichten fit zu machen, wollte er zunächst eigene Variationen des Frosch-Haikus zu Papier bringen. Kaum hatte er den Stift in der Hand, da hatte er – ratzfatz – das Blatt Papier mit gut und gern 20 Haikus gefüllt, alle von feinster Gelehrsamkeit, zartester Poesie, ziselierter Feinstichigkeit und hintergründiger Rätselhaftigkeit.
Freilich, die Thematik seiner Gedichte verließ alsbald die Froschsprungszenerie (genaugenommen schon nach der ersten Variante; Anm. des Verf.) und wandte sich farbkräftigen Nebenschauplätzen zu.
Aber das ist ja kein Schade (dachte Jerry zwischen zwei Haikus).
Alter Tümpel
Eine Kröte macht eine Arschbombe
Spritz
Trübe See
Eine Ladung Altöl wird verklappt
Schlier
Wasserpfütze
Ein Schwein wälzt sich darin
Grunz
Hoher Wasserturm
Ein Lebensmüder springt herab
Platsch
Betagter Darm
Ein Wind fährt hinein
Pups
Die alte Leich
Eine Made kriecht hinein
Schmatz
Sieh den müden Gaul
Ein Bub piekst ihn mit dem Dorn
Wieher
Kalte Nase
Ein Schleim quillt in der Nebenhöhle
Rotz
Abgelaufenes Fleisch
Ein Mann verschlingt zwei Kilogramm
Kotz
Allmählich wird mir langweilig, dachte Jerry zwischendurch. Es muss an der dritten Zeile liegen. Da muss mehr Pfiff hinein. Aussagen, die in ihrer Mehrdeutigkeit den Leser auf die Folter spannen.
Schneeverwehung
Ein VW Käfer schlittert hinein
Wann schreit der Kuckuck?
Dicker Fernsehkoch
Feinripphemd im Angebot
Auch der Hut wird nass
Quecksilberperlen
Das Uhrwerk klappert und quietscht
Rote Ampel
Hier, exakt nach dem Wort Ampel, wurde Jerry von einem Abbruch seines Wütens heimgesucht, welcher sich getreulich in die bisher beschrittene Lebenslinie einfügte: der Abbruch als Sinngebung aller Vergeblichkeit des Wuselns hier auf Erden.
Jerry hatte nämlich plötzlich einen Einfall.
Noch waren die oben erwähnten 20 Haikus nicht vollendet. Ganze 8 Haikus mussten noch fertiggestellt werden, damit die Aussage „gut und gern 20 Haikus“ verifiziert werden konnte! Aber nein, schon jetzt fuhr der Einfall wie ein Blitzdonnerzinken in die produktive Geschäftigkeit, unterbrach das Kritzeln und Grübeln und Assoziieren und drängelte sich dreist nach vorn mit dem unwiderstehlichen Argument, er, nämlich der Einfall, könne kraft einer die Effizienz steigernden Idee den Haiku-Output des Jerry um ein Vielfaches multiplizieren, was sage ich (sagte der Einfall dem Jerry), nicht nur multiplizieren sondern sogar potenzieren!
Potztausend!
Das dürfte die Kuh vom Eise schubsen.
Potz Potz Potz
Und es geschah. Nach handwerklich geschickter Umsetzung des Einfalls (der auf dieser Site nicht verraten wird) geriet Jerry in einen rauschhaften Schaffensdrang, formte Haiku für Haiku, lud Schubkarre um Schubkarre mit Dreizeilern und rollte sie in das Depot, füllte Waggons voll von Gedichten, schüttete Containerladungen auf die anschwellenden Haiku-Halden, und als das Lager zu platzen drohte von durchbiegenden prall gefüllten Haiku-Regalen, da erst unterbrach der erschöpfte Dichter sein Tun.
8000 Haikus – auf diese stattliche Menge war sein Output angewachsen –, bedeckten Boden, Euro-Paletten und Hochregal. Jerry schickte umgehend einen Auszug an den Rowohlt-Verlag mit der harschen Forderung, die Druckauflage zu begrenzen: Die 8000 Haikus müssten in exakt 8000 farblich unterschiedlichen Ausgaben gedruckt werden, sonst würde der Deal platzen zu Gunsten des Suhrkamp-Verlages; der Autor (hier sprach er in der dritten Person) wäre schließlich kein knüttelreimender Provinzdackel.
Gut, dachte Jerry nach einer ergebnislosen Wartezeit von zwei Jahren, Genie kann nur durch Genie erkannt und (sagte schon Goethe, dachte er in einem Einschub zwischen dem Gedankengang), (so oder ähnlich wird Goethe es schon gesagt haben, dachte er in einem Zwischeneinschub zum Einschub zwischen dem Hauptgedankengang, Goethe hat praktisch zu allem seinen Senf dazugegeben) gewürdigt werden, und daran hapert es eben bei den Volksverlagen. Das Depot bleibt deshalb geschlossen, aus, Punkt, basta.
Seit Erfindung des Internets aber kann die Öffentlichkeit einen Gang durch das Eldorado der Haiku-Jünger antreten und links und rechts (auch mittig!) die Verse an sich vorbeiziehen lassen! Der Eintritt ist frei.
Mit einem Klick geht es zum: