Hans Joachim Teschner

 

Im Schatten des Watzberges

 

Neun Überlieferungen

 


 

 

1. Alpenglühen

2. Der Kürassier von Monte Malo

3. Die Entweihung des Eintagstanzes und die daraus folgende Schadhaftigkeit

4. Die Wölbung der Werte

5. Katzenbrät und Ziegenmölk

6. Sieben Schläge, sieben Sünden

7. Das Erbe des Holundergerbers

8. Der Ruin des Supermarktes

9. Grausige Details einer Entführung

 

 


Alpenglühen 

 

Heidi hatte ein Alpenröschen gepflückt, droben auf dem Watzberg. Es roch nach Schuhwichs, und dieser Geruch war es, der sie in ihre glückliche Kindheit versetzte, wo die Mutter noch Rüben einkochte und den Saft des Erdferkels zu süßer Marmelade verarbeitete. Während Heidi noch am Röschen schnupperte hatte Onkel Berthold seine Repetierbüchse geschultert, um das bärwütige Rind zu schießen, das draußen in der Einöd schadhaft weidete, den mühsam gedüngten Steinbruch abgraste und somit das Existenzminimum des Lohnsklaven Jarislaw und seines grinden Maibocks beeinträchtigte.

Den Hut mit dem Edelweiß am Bande setzte sich der Onkel auf als Tarnung und des Geruchs wegen, welcher das bärwütige Rind verwirren sollte, es ins Verderben locken, vor die Flinte mit dem gezogenen Lauf, ein Prachtstück der Büchsenmacherkunst, ganz und gar unikatisch, wie der Onkel immer wieder und so auch jetzt zu versichern wusste und gar kein Ende finden wollte.

„Nun aber rasch den Bach queren“, rief die Mutter ungeduldig und des Lobhudelns überdrüssig. Sie rief vom Fenster aus, dem südseitigen mit den von Bauernmalerei befleckten Zargen. „So mach er sich doch auf, der feine Jäger, bevor die Schubiake Einzug halten und die Wassermühle lahm legen.“

Seit Jahrhundertgedenken nämlich fielen am 12. Juni die Schubiake ein, von denen niemand im Tal ahnte, dass es ihre eigenen Vorfahren waren, verschleppt, verschandelt, vergessen. Ein Volk ohne Vergangenheit.

Dessen Anführer, Dipl.-Ing. Dr. Wosniak, hatte sich dem grinden Maibock ergeben, war ihm willenlos verfallen auf ewig. Deshalb der jährliche Überfall auf den Huberer-Klan. Deshalb das Lahmlegen der Wassermühle. Ein Ablenkungsmanöver, um den Lohnsklaven Jarislaw auf die reparaturanfällige Kalamität aufmerksam zu machen, darüber er seinen Maibock aus den Augen verliere.

Zum Zweiten: Unterscharführer Robiniak, der alte Hauzahn, hatte durchblicken lassen, dass auch er gern dem Maibock seine Aufwartung machen würde, der Grind würd' ihn nicht stören. Aber da hatte er nicht mit Krawussniak gerechnet, dem Pedell, der ihm den Zutritt zum geseiften Thron des Kaiserbocks verweigerte mit der Unsinnigkeit, die Huberer Elise sei an G’schwindsucht gen Firmament g‘pfiffen.

Inzwischen hatte Heidi das Röschen in ihren Schultersack gestopft (und dabei tüchtig verknittert) neben dem Käseschmarren, dem Bierfläschlein und dem smarten Phon, das unablässig die Melodie vom dritten Mann plinkerte.

Da wollte jemand angehört sein.

Da wollte sich eine Nachricht auftun.

Da wollte der Knopf bedient werden, der den Empfang öffnete für Worte, wispernd aus dem Winziglautsprecher.

Josepha, ihre Schwester aus Amerika, hing am Draht.

„Hallo Huberer Heidi“, sprach Josepha, und das Hallo klang wie Hello.

„Hello“, antwortete Heidi entbehrungsreich.

Den Diplomingenieur wollte die Schwester sprechen, denn sie war mit dem Schubiak verludert, seit die Pubertät im Huberertal ihr Unwesen trieb.

„Der Wosniak treibt‘s nunmehr mit dem Maibock, der geiltriefende.“

„Ach, welch garstig Schwamm muss ich nun führen“, seufzte die Josepha verworren, „dann muss ich wohl mit dem Kennedy Jamie ehebrechen, ein Kreuz halt ist‘s.“

Davon wollte die Heidi nichts hören. Sie war ja noch unbedarft.

„Aber zur Hochzeit kommst, gell“, frug die Schwester aus York, „du, den Honigmond musst kennenlern‘ droben in Las Vegas. Dort klimpert's unaufhörlich.“

Der Winziglautsprecher knackte. Ein Gewitter zog auf. Der Watzberg würde zerdonnert und weggefusselt, wenn die Heidi sich nicht sputen würde.

Ein halbes Jahr verfloss im Huberer-Tal. Die Schubiake waren im Eilgepäck abgezogen, nachdem sie die Wassermühle mit Bleisand und Leerkartuschen lahm gelegt hatten. Dem grinden Maibock hatten sie dennoch nicht – wie schon in den Jahren davor – den Schneid abkaufen können geschweige denn eine Liebschaft andienen. Nun hieß es für die sorglich in der Sakristei versteckten Huberer, die Ärmel zu krempeln und das  Gotteshäusl zu verlassen, um die Schadhaftigkeit zu reparieren.

Zu diesem Zeitpunkt war Heidi schon in Las Vegas gelandet und hatte das Röslein, den  Käseschmarren, das Bierfläschlein und sogar das smarte Phon verklimpert. Nur der Honigmond war ihr geblieben, ein zotteliges Fordfahrzeug mit einem Geweih auf dem Kühlerblech.

Ach, wie die Huberer Heidi ihr Huberertal mit dem Huberer-Klan vermisste. Josepha konnte sie nicht trostspenden. Umgedreht auch nicht.

 Josepha also konnte sie nicht trostspenden. Darüber verlor sich der Faden der Klimperodyssee im Spielerparadies. Was würde aus Heidi und ihrer Schwester werden? Würde der Huberer-Klan einen Rachefeldzug ins Schubiakenland planen und dabei vielerlei Abenteuer auf sein Konto verbuchen?

Drüben, im wilden Schubiakien, hockte derweil Dipl.-Ing. Dr. Wosniak vor seinem Laptop. Nach der Huberer Josepha war er hinterher zu googeln. Reumütig wollte er ihr seine Reumütigkeit auf das Tablett servieren, wollte den Fauxpas mit dem grinden Maibock wieder ins rechte Lot hängen, um sein Versprechen in die Wahrheit umzumünzen, nämlich der Josepha einen hieb- und stichfesten Ehevertrag in den Busenausschnitt stecken, wie es der alteingesessene schubiakische Brauch wollte, von dem man munkelte, er sei für vieles zu haben, nur nicht zum geschäftlichen Austausch verbindlicher AGBs.

Aber darüber ließe sich streiten, murmelte Wosniak, der Dipl.-Ing. mit dem Dr.. Murmelte es anschwellend erzürnt, nachdem er über den Daumen gerechnet schon mehr als 240 Mal das Suchwort Josepha-Clementine-Aurelia-Tarzisia-Walburga eingegeben hatte, den vollständigen Namen seiner ihm verluderten Angebeteten. Ohne Erfolg. In seiner Verzweiflung tippte er den Begriff Huberer ein. Und was soll man sagen! Vieltausendfach schüttete der Google-Apparat Treffer über Treffer aus.

Nur die Josepha, die war nicht dabei.

 

 


Der Kürassier von Monte Malo

 

Hinab galoppte der wilde Panzerreiter, Funkenschlag und Staubgewölle hinter sich lassend, und die Felssteinschwärme stoben auseinander von der Trappelwucht der Hufe. Mit seinem Rappen Heini Husten durchmaß der Kürassier Antoninus Rosenklamm die Schlucht der gesäbelten Siebenbürger – von weitem glockten schon die Erze, wummerten die Schallwellen von den Turmanlagen der Grafenburg, droben auf dem Monte Malo.

"Ho Heini ho!" raunzte der Reitersmann seinem Rappen ins Ohr. Und der Rappe hustete eine Salve blutigen Schleims auf die kaltglänzenden Kiesel des Todestals, Echo auf Echo türmte sich an den Felswänden, und das höllische Gespann fegte grimm entfesselt durch den Karst, kein Gesäbelter hatte je Ähnliches erblickt. Es galt, eine lebenswichtige Botschaft zu überbringen, sie dem Grafen von Monte Malo vor die Füße zu werfen zur Rettung seines Hauses.

Plötzlich fanfarte ein Signal durch den Kessel aus Hufeisenschlag und Staubgestieber, von seitwärts brach es heraus, aus eine Felsspalte, noch unstet, noch zerfasert. War es die Vorhut der Rammbrigade des Feldwebels Korfhaut, der sich anschickte, den Weg des Kürassiers zu kreuzen, seinen Plan zu vereiteln? Wollte der harschknochige Haudegen dem Rappen ein Fuder Nagelklein in die Läufe kartätschen? Das Schmettersignal aus der Felsspalte pumpte und blähte im Takt, verlor an Kraft, hielt inne in einer Kakophonie aus Kreisch und Koller, klappte zusammen und implodierte. Ein Sog wie von tausend Laubsaugern fauchte auf und riss alles hinein in die Spalte, was nicht mindest das Gewicht eines Güterwaggons voll von Bleiplatten aufbrachte.

Dem Kürassier Antoninus Rosenklamm aber gelang es in letzter Sekunde, seinen Rappen mit einem Sporenstoß zum Todessprung zu schinden. Mit einem mächtigen Satz schnellte das Tier in das Düsterdunkel einer Höhle, die in einem Seitenwinkel aufschlundete und an deren Ende ein schales Licht glomm, welches ein Entkommen versprach durch heißbrodelnde Quellen und modrige Spinnengänge hinaus auf eine ungewisse Lichtung, wo der Generalissimus der gehorsamen Gebrestfacher auf sie wartete, um die Neuankömmlinge mit Eiterpest erklecklich zu versorgen und danach ins Fäulnisloch zu stopfen, darin sie von den triebigen Fleckfieberfachern einer fürsorglichen Behandlung zuteil würden.   

Doch so weit kam es nicht, denn Heini Husten, der Rappe aus der edlen Zucht Ostgrotaniens, blieb quer im Gußeisenrahmen der Eingangsschleuse stecken, eingeklemmt im rostenden Zwangsbett des Pförtners, und darob entwich seinem Fell das Pigment der Rappenhaftigkeit – von den Nüstern an bis in die Schwanzspitzen: Heini Husten war zum Schimmel erbleicht.

"Das ist nicht mehr mein Heini", klagte Rosenklamm bitterlich, "Husten war sein Name, doch nunmehr soll er Horst Leichenfeld geheißen werden."

Und der Schimmel wieherte in ungeschminkter Tonart.

Und der Kürassier weinte im Gedenken an die vergangenheitlichten Abenteuer auf schwarzem Pferderücken.

Und der Schimmel wieherte ein zweites Mal, diesmal in absteigender Tonfolge.

Und der Kürassier strich herzwund mit der unbehandschuhten Faust über seinen lockigen Kopf.

Und der Schimmel wieherte ein drittes Mal mit empfindsamen Verzierungen im obertönigen Spektralbereich.  

Und der Kürassier erschrak. In seiner Faust hielt er ein Büschel ergrauter Haare.

"Weh mir", rief der Kürassier, "die Pracht meines Schopfes ist hin. Kein Härchen dockt mehr an auf dem Rund meines Hauptes. So will denn auch ich meinen Namen aufgeben. Egon Viertel soll ich fürderhin geheißen sein, Egon Viertel, genannt der Argonaut."

Ein schwerer, ein falscher Entschluss, wie wir bald erfahren werden.

Und der Rappschimmel Horst Leichenfeld blies seine Nüstern auf, sprengte mit einem Huftritt der Verzweiflung das Zwangsbett des Pförtners und raste davon, noch Dekaden danach hallte der Fluch des Schlüsselknechtes von den Felsschründen. Ohne eine einzige Rast galoppte er durch die Nacht, bis die Silhouette des Monte Malo vor ihm aufstieg und den Mond verdeckte. Ermüdet sank Egon Viertel vom schweißdampfenden Rücken des Rosses und pochte an die Falltür der Grafenburg. Doch der Zutritt wurde ihm verweigert. Zwei schattengleiche Wächter erhoben ihre Stimme und es klang wie aus einem Munde: "Einen Argonauten namens Egon Viertel, der mit einem Schimmel Horst Leichenfeld dahergegaloppt kommt, ist unsereins nicht bekannt. Da kann sogar kommen der Kaiser von Bratislavien, und es würde ihm kein Einlass gewährt."

"Eine lebenswichtige Botschaft bring ich", rief Egon Viertel, "es geht um das Schicksal des Grafengeschlechts samt und sonders und um die Belagerung von Australien in spe und um noch mehr."

"Kein Einlass, kein Einlass."

"Um einen fälschungssicheren Ausweis geht es und um den gelben Sack."

"Kein Einlass, kein Einlass."

"Um die Zwangsehe mit dem Buckligen geht es und um deren Verhinderung im Ganzen."

"Kein Einlass, kein Einlass."

"Um den Gottesbeweis geht es, er ist wohl geraten in der Schlafkammer der Witwe Hohler, und ich kenne die Lösung."

"Kein Einlass, kein Einlass."

"Dann geht es eben um die Verhaftung des Wachpostens der Grafenburg. Ergebt euch, oder es wird ein Wehleiden hoch vier einsetzen im Quadrat."

Die zwei Schatten stoben von den Wachtürmen auf. In welscher Manier artikulierten sie den folgenden Stegreif: 

"Verzieh er sich, bevor der Graf von Monte Malo es sich überlegt."

"Was soll der Graf sich überlegen denn?" frug vornehm der Egon Viertel alias Antoninus Rosenklamm oder umgekehrt.

Die Wachbrüder, ein Zwillingspaar aus dem Hause der Pfufften, überlegten lange. Der Tag schwand, der Abend breitete seine Galoschen aus, und die Nacht meldete vom Horizont aus die Ankunft eines Palettennaglers, der sich anschickte, die Grafenburg von Monte Malo mit einem undurchdringlichen Verhau aus eichenen Paletten einzusargen.

Flink hüpfte er herbei, der Palettennagler, und bevor der Morgen sein Grau ankleidete, war das Werk vollbracht und die Burg verbrettert.  

Monat um Monat verharrte der Kürassier vor der Palettensperre. Keiner der beiden Wachbrüder ließ sich erweichen, ihn einzulassen, konnten sie doch selbst nicht den Bretterwall durchdringen.

Allein, Egon Viertel blieb hartnäckig. Mal versuchte er es mit Zaubervorführungen, mal mit dem Rezitieren eines Bettelreimes, mal mit dem sechsfachen Wechsel seines Namens, die da lauteten:

 

Wassily Schluterjaski, der kurze Protektor

Konquistador Gaddagadda aus dem Reich des Goldes und der Honigmilch

Papst Innocent in der Eisenlunge

Karl Kot, Schwertträger am Hosenband

Dr. med. Udo Leibnitz, Sprechstunde nach Vereinbarung

Verpisst euch, ihr Saugesellen

 

Nichts konnte die Brüder überzeugen.

Als letzten, als verzweifelten Versuch, die Schattengesellen über den Balbier zu löffeln, entbot der Kürassier ihnen ein unmoralisches Angebot. Dazu zwängte er sich in ein Korsett aus fleischfarbenen Linnen, schnallte sich einen Busenbeutel gefüllt mit Baumschwamm um die Brust und schmachtete gen Burgtor: "Vor euch steht Katharina II, die Große Hure, bekannt für ihren unersättlichen Hunger nach geschlechtlichem Kanonenfutter. Für den Augenblick hat sie, das heißt meine Person daselbst, einen Jacher nach schamlosen Sex mit derer von den Pfufften. Greift nur zu, ihr wackeren Wächter, euch stehen Tür und Tor der Großen Hure offen, wenn ihr wisst, was ich meine."

Einen Augenblick lang schwiegen die Brüder. Das unmoralische Angebot schien zu zünden. Sie schwankten, schöpften eine Prise Riechsalz aus ihren Haushaltsköchern und gaben nach einer Gedenkminute von ca. 20 Sekunden ihren Entschluss kund: "Kein Einlass, kein Einlass."

Der Kürassier gab auf. Nach all den ergebnislosen Mutationen, die ihm die Nutzlosigkeit der Darwinschen Evolutionslehre vor Augen führten, sah er das Ende seiner Zeit gekommen, und er schaufelte sich eine komfortable Grube, in die er sich um Mitternacht legte, um zu sterben. Seine Botschaft nahm er mit ins Grab auf ewig.

Noch viele Jahre graste sein treuer Schimmel Horst Leichenfeld vor dem Burgvorplatz. Ihm wurde ein Denkmal errichtet, das ihn als den stolzen Rappen Heini Husten zeigt, in Klammern alias Horst Leichenfeld.

 

 


Die Entweihung des Eintagstanzes und die daraus folgende Schadhaftigkeit

 

Dorothea Rubenstößel, die Witwe des Hofsattlers aus der Taubengasse, führte wieder einmal den 'Veitstanz des Ordinären' vor. So bezeichnete Zeremonienmeister Hubert Hunzelpfropf ihr Gezappel und, präzise gesagt, hatte er keine Lust mehr. Keine Lust auf kleidsam vorgetragene Schrittkombinationen der Albernheit noch auf spastische Zuckungen der Gliedmaße, welche stets in einen Staccatowirbel obszöner Verrenkungen ausarteten. Mit der Rubenstößel war er sowieso durch. Sie, deren hakennasiges Raubvogelgesicht durch keinerlei Schminkhavarie zu entschuldigen war, hatte schon mehrfach die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen, wobei die Bezeichnung 'Aufmerksamkeit' eine krasse Beschönigung des Aufruhrs war, den ihre Aktionen auslöste. Am Pfingstmontag des Wendejahres hatte sie sogar die Unverfrorenheit besessen, den Eintagstanz zu entweihen. Vielleicht geschah es nur aus Schusseligkeit. Jedenfalls war sie eine Stunde vor dem Anpfiff zum feierlichen Startgemurmel mit flatternden Unterröcken in die Kabinen der Umerziehung gerauscht und hatte zum Fünferschritt aufgerufen. Ausgerechnet zur Schrittfolge des obrigkeitlich verfemten Fünfers!

Der Eintagstanz musste daraufhin aus der Agenda gestrichen werden. Die Aufzeichnungen seiner Schrittfolgen sowie Hüpfhöhe und Ruckelfrequenz wanderten in das Archiv der geschwärzten Bücher. Und niemand außer Hunzelpfropf, der Zeremonienmeister der kaiserlichen Tanzcompagnie, konnte sie von dort je wieder herausprotokollieren. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn die geschwärzten Bücher trugen nicht von ungefähr ihren Namen: Alle Seiten eines indizierten Werkes wurden bei der Aufnahme ins Archiv mit Teer übertüncht, sofern sie nicht vorher herausgerissen und dem Feuer des Vergessens übergeben wurden, einem Feuer von der Hitze zehntausendfachen Celsiusgrades, das keine Amöbe der Druckkunst zu überleben vermochte.

So war es eben.

So war es schon dem Rittlingswalzer ergangen, dem Bimbo-Limbo, dem Schnepfen-Krakowiak und dem quadrillierten Twostep. Oder auch dem Kreuztanz, diesem in besonderem Maße. Beim Gedanken an den legendären Schreitgalopp schauderte es Hunzelpfropf. Mit gekreuzten Beinen hatten die Tänzer ihre Fußsohlen über glühende Papyrusrollen schieben müssen. Papyrus aus Kohlefasern der neuesten, der langlebigsten Generation. Alle zwei Sekunden hatten die Tänzer die Beine gegenzukreuzen, und danach wurde ein Trippelgang rückwärts eingelegt. Die Damen hatten zu gorgeln und vierschrötig zu buckeln, während die Herren von lilafarbenen Nacktsklaven mit Palmwedeln aus Stachelschwänzen und Kupferdrahtriemen gepeitscht wurden.

 

Ho, wie sie hyperventilierten!

Keinen Laut durften sie von sich geben.

Keine Miene aufsetzen weder zum Gebet noch zur Klage einer Unwohlbekommenheit.

Ho ho, wie sie innerlich schrumpften.

Nicht einen Finger durften sie krümmen, nicht den Nagel eines Fingers.

Den Bauch nicht einziehen trotz Schmerzkrampf im Pansenrevier.

Weder das Ohrenschmalz herausquetschen noch mit Speichel sabbern.

Die Augen nicht feuchten, die Nase nicht kräuseln.

Ho, wie sie leichenbleichten unter den Fasern ihrer Pergamenthaut.

Nichts war ihnen erlaubt.

Einzig nichts. Nichts und nichts sonst.

 

Keine Tänzerin, kein Tänzer hatte den Parcours überlebt, und da sich fürderhin kein Freiwilliger mehr meldete, wanderte der Kreuztanz ins Archiv der geschwärzten Bücher.

Hubert Hunzelpfropf zog sein Mobiltelefon aus dem Wams und gab den Geheimcode der Tanzcompagnie ein. Niemand nahm ab.

Befriedigt steckte der Zeremonienmeister sein Handtelefon zurück in eine seiner tieferen Wamsfalten. Beim ersten Schlag der Mondenwende würde er sich Dorothea Rubenstößel vornehmen, und niemand würde ihn daran hindern, ihr den grauenhaften Schabentanz aufs Gesäß zu brennen. Darüber würde sie den Veitstanz des Ordinären vergessen, vergessen auf Ewigkeit, denn beim Schabentanz handelte es sich um einen der drei gefürchteten Kreistänze, die nie endeten, bei denen jeder Schritt, jeder Sprung und jede Drehung den Anfangs- wie auch den Endpunkt darstellte, ein immerwährendes Schunkeln, Rollen, Hüpfen, Verneigen, Wälzen, Stelzen, Schlurren, Stieben und Stolzieren, ein Rotieren um die eigene Achse, ein ewigliches Nocheinmal und Immerwieder.

Droben, im Saal der wiegenden Klänge, hinter dessen Fenstern man gekrümmte Schatten vorbeihuschen sah, tanzten die Verdammten schon seit undenklichen Zeiten. Ergraut waren sie, die Haarbüschel wehten wirr um ihre schlaffen Wangen, die Schritte unsicher, wackelnd, und die alten Knochen knirschten bei jeder Verbeugung. Doch es gab kein Pardon, keine Hoffnung auf ein Ende der Musik. 

Dorthin würde Hubert die Rubenstößel verbannen. Das Handbuch zum Veitstanz des Ordinären aber würde geteert, zerrissen und siebenfach verbrannt dem Archiv der geschwärzten Bücher zugeführt werden, dahin, wo schon der von der Rubenstößel propagierte Fünfer gelandet war.

Hubert Hunzelpfropf lachte kurz und mitleidlos auf. Durch das offene Fenster drang der erste Schlag der Mondenwende.

 

 


Die Wölbung der Werte

 

Vergriesgrämt und übelgelaunt bäumte er sich auf im Kampf gegen die Furien der Erkenntnis: der Konditor Sigismund Ruck, gefangen im Geruchszentrum von Karamell und Krokant. Mit bäuchiger Schubkraft stemmte er sich gegen den giftgeifernden Schwarm der Gedankenpfeile, die von überall herbeizuschießen schienen. Doch wie er sich auch bäumte und bäumte, die Schwadron der Erkenntnis gewann die Oberhand und keilte den Siegerfuß in die karierte Bäckerhose. Nunmehr, so klagte der Ruck Sigismund noch während des Zusammenbruchs seiner Mentalitäten, nunmehr seien die Werte gewölbt. Damit sei alles verraten und verratzt und das Ende besiegelt in Ewigkeit Amen.

Gewölbte Werte! Das Undenkbare war eingetreten.

Sigismund Ruck riss die Bäckermütze vom Schädel und stürmte nach draußen in den Sommergarten, wo sich die Kaffeegäste auf dem Gestühl des Wohlbefindens labten, ab und an gestört von einer Königswespe. Die surrte von einem Tisch zum anderen, um der Sachertorte, dem Baiser und dem Mohnstriezel ihre Aufwartung zu machen.

„Ich habe es nicht gewollt“, beteuerte Backfachmann Sigismund mit mehligem Tremolo, „doch die Würfel sind gefallen und die Werte als gewölbt zu betrachten. Zimt und Zichorie sind gewesenes Dasein.“
Auch das noch!

Ein Gast – schwerfällig wie ein Seelöwe im Wams seines Winterspecks – erhob sich keuchend und öffnete den Mund zum Zwecke des Widerspruchs. Noch allerdings ging kein Aufatmen durch die Schar der Kuchenfresser. Noch war das Unfassbare nicht zermalmt, nicht geschreddert von den schwirrenden Säbeln des rhetorischen Gemetzels, welches der schwere Kaventzmann anhub zu entfachen. Hoffnung, einig Hoffnung kroch klamm über die Tischdecken und versuchte mit mangelbehaftetem Erfolg, den Angstgeruch von Jauchekot und Schwalbenschiss zu übertünchen. Und noch immer verhinderte das beredtlose Stummschweigen des Schwergewichtigen einen verbalen Vernichtungsschlag und damit ein allseits befreiendes Triumpfgehänsel über den Hiobsbäcker. Würde der seelöwige Gast, Dr. Dr. Dominikus von Rabenzahn, Professor für Poetologie, es schaffen, einen pfundigen Rumpelschlag gegen das ungeheuerliche Diktum des Konditors mit dem Glatzkopf herauszupressen, würde er einen borstigen Thesenstrunk aus seinem Schlundloch reihern, würde er die Wölbung der Werte in Grund und Boden rabulieren?

Voreilig, zu voreilig gar ging ein Raunen durchs Fresserparkett: „Seht das blutge Mahngericht.“

Ha, da lachte der Konditormeister auf. Zynisch winkte er die Königswespe herbei. Mit dem Schlagfinger stieß er in die Richtung des Aufsässigen, des Widermüpfigen, des zu schändlicher Abkehr bereiten Dr. Dr. von Rabenzahn. „Dort hinein“, befahl der Bäckersmacker, welcher die Werte als gewölbt ausgab kraft seiner ihm zugestoßenen Niederlage in der Schlacht gegen die Furien der Erkenntnis.

Und die Wespe folgte dem Ruf des herrischen Backmenschen. 

In schurgerader Bahn schnellte sie vor, jagte wieselscharf entlang der Parallelachse des Schlagfingers; zielschnell und gradlebig schoss sie hin zum Offenmaul, zur Gurgelschwärze, zum Gaumenkrater des doppelten Doktors, dem die Schwerfälligkeit zum Fatum seines elenden Wichtigtums wurde.

Hinein sirrt die Wesp ins Dunkel,

die Zung erschwillt beim Stich,

hinweg- und fortgepiesackt

ist der erste Doktorus

mit seinem Protzgedöns!

Jetzt gehets in die tiefe Kehl,

und das zweite Doktorfalsch

wird als Opferlamm

ausgemacht und abgestecht.

Blank stiert der Dominikus

ins Grau des Nichts,

beraubt all seiner Titel.

Und die Fresser draußen

stöhnen auf und brechen Galle.

Freilich, das war noch nicht des Infernos letzter Hiebschlag. Ins Freie pfiff nun – bar jeder Contenance – die Kaltmamsell im Flatterstoß ihrer Kittelschürze. Und das Gesinde folgte philiströs, einzig, um der Wölbung der Werte mit dem flagellantischen Geschmack der Unterwürfigkeit zu schmeicheln. Ein Fest der Brüderschaft der Lakaien sollte es werden, aber es wurde ein Fest der Verblendeten und Verdummlichten! Denn sie selbst, die Domestiken aus ihren Gruftlöchern drunten in der feuchtschwitzigen Krypta der Backstubenkatakombe, sie feierten nichts anderes als den Eigentod, der sich hinter einer Verheißung verbarg und der sie ihre Hoffnung geschenkt hatten, und die Verheißung lautete: Die Werte werden gewölbt auf immerdar.

 


Katzenbrät und Ziegenmölk

 

1. Kaptielle

Wie der Diebstählerkopp vom Scharfrichterhenker in den Korb befördert wurd

 

Aloysius Schnitzendrecker, der Henker zu des Fürsten Gnaden, warf eilig seine braune Kutte über. Ein Kunde wartete seiner, der Mehrfachmörder, Diebstähler und Majestätsbeleidiger Holofernes Brockspeichler, der sich seinerseits wegen des kommenden Ereignisses affizierte, indem er einen gehörigen Zug Ziegenmölk in seinen Schlund stürzte resp. in seinen Schlünd sturzte, ein berserkerhafter Kreuzigungsgang, den ihm niemand streitig zu machen den Mut aufzunehmen wagte. Nicht einmal sein Mütterlein, die rüschengebuxte Josephina-Amalia-Leutseliga, gebornte Lefzenschlacker, nachmalig von der Brut der Brockspeichler! Beide, der Aloysius sowie der Holofernes, gaben Laut – der eine herrschsüchtig im Tonfall einer allermajestätischsten Hochwohlgeborenheit, die er niemals zu Lebzeiten werden sein künnt, der andere ungehöbelt, wie es seiner Natur entspruchte. (Wer von beiden war der eine, wer der andere?)

„Nun  mach er zu.“ Dies herrschte die Ehefräü des bereits arg versprudelten Scharfrichters in den Orkus. „Die Zeitenwende schlägt“

Und tatsächlich schlugte das Türmchenglöcklein an die dreizehn Male. Ein Omen!

Wohl auch des Fürsten Ohr vernahm die Botschaft, er, der wohlzugeborene Graf von und weiterso Schuddel-Zetteltrachter-Balduran-Grrortzckgwqua im Stande derer Von Gnade Und Bescheid, er, der über alle Zwölftel hinwegfegtete und zu den Auen der Gehaltlosigkeit hinsterbende und so gungte es weiter und weiter, hier verlor sich der Faden. 

 Das Ave Marien sprach der Pastorius Gotthelfe Knustfurzer in der wohlfeinesten Absicht, dem Mörderbuben Schnitzendrecker eine gehörige Lektion in Sächlichkeit der Moralität auf die Stürn zu tatooisieren, sprichwörtlich gebuchstabt. „Fall er auf die Knie, Sünder vor allem und außerdem Ziegenmölkfressbeutel.“ Also sprach der Knustfurzer und schlugte ein Kruzifix über den Frevler. Dieser aber lachte auf, frenetisch, ein Deibel in Persona, ein Würm im Ganzen, ein Wiedergänger des Pferdefüßigen und Bockschwänzigen.

Nunmehr schritt der Baron Joshua Jablonskajutzcke ins Verhörverlies und verlies es wieder.

Von dannen trabte auch der Pastorius mit Namen Knustfurzer Gotthelfe.

Denn das Henkersmahl stund bevör. Ein Katzenbrät aus gutem Hause, dies schlungte der Mördersmann herunt und glattgestrichen gab er einen mächtigen Zug Ziegenmölk hinterdrein.

Da krachten die Kaldaunen.

Der Henker hob das Beil.

Und das Köpf fielte in den Korb.

 

2. Kaptielle

Wie der Joshua dem Gotthelfe das Katzenbrät abdödelte

 

Nunmehr machte sich der Baron Joshua Jablonskajutzcke auf, den Pastorius zu melken. Nämlich gehörig auf den Dödel zu klottern, damit Goldtalerchen ins bereitgestellte Dukatenkästchen kollerten. Dem Knustfurzer Gotthelfe stund es schließlich nicht an, sich am Henkersmahl einen guten Gewinn herauszubeten, weder von Katzenbrät noch von edel aufgefroschter Ziegenmölk. Diesem Zugewinn konnte keiner dem Jablonskajutzcke widerkräften, so gungte es schon seit Jahrhunderten, damals im Tale der Todesdelinquenten, ein hehrer Brauch und Erbreihe in Folge.

Später würd er dem Fürsten Rapport erstellen, und – wie so often in schwuler Zeit – ihm den Kotau anjochen und in Huldigung aufschlämmen.

Aber das stund erst im Kaptielle 3 zu Gebote, auszumalen zu sein.

 

3. Kaptielle

Wie die Geschicht kein End fund

 

Hier sollte der Ausmalung der kotischen Rapportierung einen Raum zugewiesen werden wurden sein. Bis nunmehr wart es nichtsen geschehen!

 

 


Sieben Schläge, sieben Sünden

 

Das Jahr der großen Dürre brachte dem Regenmüller den Reichtum, den er sich sein ganzes Leben lang erhofft hatte. Aus allen Himmelsrichtungen strömten die Leute herbei und baten um seine Hilfe. Finanziell solle es sein Schade nicht sein, so beeilten sie sich, seine Gunst zu erschleichen. Ihre Felder seien trockengefallen, das Gemüse verdorrt, und das Vieh stünde welk im Staub, die bleichen Knochen unter rissiger Haut würden bereits das Lied vom Hungertode klappern. Sogar Nikolai von Humperdinck, der mit der hohen Nase und dem Adelstitel unter dem Borsalino, sogar er ließ anschirren, um bei dem Regenmüller vorstellig zu werden, ausgerechnet beim Regenmüller, dem Unterwürdigsten, den er sich je hätte vorstellen können. Herrisch bremste der Humperdinck die Kutsche vor dem Haus des Regenmüllers ab, Straßensand wirbelte auf, und Steinchen flogen in den Vorgarten. Seine Ländereien, so klagte der Humperdinck vom samtbezogenen Kutschbock herunter, denn er stieg niemals ab ins Volk der Niedriggänger, seine Ländereien könne man schrumpfen sehen vor Auszehrung, so man Augen im Kopfe habe, was er aber hinsichtlich der Beschaffenheit des Kopfinhaltes des umherkrauchenden Untertanengesindels stark bezweifele. Unversehens war Nikolai aus dem Geschlecht derer von Humperdinck wieder einmal in seine hoffärtige Übellaune verfallen, und da schob selbst das Ungemach seiner schrumpfenden Ländereien keinen Balken vor sein Maulwerk.

Wie er also schimpfte und spottete und sich schier in einen Geiferschaum hineinsteigerte und den Niedrigfüßlern ordentlich was auf das Gemüt brannte mit seinen Boshaftigkeiten, da verlor sogar der Regenmüller seine Beherrschung. Ob er, giftete er tückisch zurück, ob er, nämlich der von und zu Scheißhaufen von Humperdinck mal seine Gusch halten könne, aus der nichts Nobleres als Jauchegestank und Ekelschleim hervorkröchen, ob er, der Heimbewohner von Sankt Dickdarm, ob er, der Nichtsnutz aus dem Inzest einer Adelsfäulnis, oder besser noch, berichtigte sich der schon arg alterierte Regenmüller, oder besser noch: das Nichtsnutz von Adelsfäule, man beachte höflichst den Unterschied, nämlich nicht DER Nichtsnutz, sondern DAS Nichtsnutz…

Hier wurde der in seiner Wut hitzig aufbrausende Regenmüller von seinem Sohn Borislaw unterbrochen und abgehalten von weit erklecklicheren Sottisen, zu denen der Regenmüller durchaus fähig und willens war, man denke nur an die bedeutsame Streitwoche im Gasthaus Zur Henne, bei der der Prior Dominikus aus dem Schweigekloster vom Huberertal abwegig unterlag und dies vor dem Herrn zugeben musste, wenn auch in aller Stille nächtens aus Anlass einer Privatbeichte im Seitenschiff der Klosterkapelle, wo Beichtvater Pastorius Gotthelfe Knustfurzer vor Neid erblasste, dies aber nicht zugeben wollte und es auch keiner gemerkt haben mochte, wäre nicht in diesem Augenblick die Betlampe im dunklen Stuhl aufgeflackert, noch Schlimmeres verhütend.

Normalerweise hielt sich der Sohn des Regenmüllers zurück. Normalerweise döste Borislaw eingekuschelt in seinem Käfig, droben an der Hausmauer in lichter Höhe. Jetzt und hier aber war es aus mit Eiapopeia. Drohend richtete sich das Babymonster Borislaw auf. Seinen Steiß reckte es wirkmächtig gegen die Gitterstäbe, die sich bogen. In der Ferne sah man Rauchwolken erblühen. Die vielspurige Gletscherbahn rumorte vom Huberertal aufsteigend zum Watzberg hin, qualmend kippte sie aus dem Gleis. Alles schien sich zu drehen. Und das nur, weil Borislaw einen bösen Fluch auf seinen Vater geschleudert hatte, so böse, so abgefeimt, dass das geschriebene Wort versagt vor der Wucht der Niedertracht, dass höchstens und bedauerlicherweise irgendwann die Ahnen davon berichten werden mögen, nur ansatzweise, unter Vorbehalt des Wahrheitsgehaltes.

Der Fluch ließ auch den Humperdinck auf seinem Kutschbock zusammenzucken. Hatte der Satan seine Klauen im Spiel? War er die tiefe Ursache für die Dürre? Legte er die infame Schmähung auf die Zunge des renitenten Regenmüllers? Hatte er dem Babymonster den Fluch ins kranke Hirn geschraubt? Wie waren die Zeichen zu deuten? Musste man dem Leibhaftigen einen Obulus entrichten, gar ein Menschenopfer wie in alter Zeit?

Unsanft wurde der Humperdinck aus seinen Überlegungen gerissen. Die beiden Pferde gingen durch. Sie bäumten sich schnaubend auf, wieherten die Fanfare der Revolution, da steilte schon die Deichsel empor, splitterte, und mit losen Zügeln preschten die Pferde durch das Tor, wobei ein Rad gegen die Mauer stieß, sich quer stellte und schließlich abbrach, um mit ein paar eiernden Umdrehungen im Trockenbeet der Kräuterfrau Gundula Großfetzen zu landen. Das hatte er nun davon, der Nikolai von Humperdinck. Wäre er doch lieber in seiner Kemenate geblieben und hätte an seinem Choralvorspiel weitergetüftelt, ein Werklein zu Ehren der Schwarzen Zofe vom Huberertal, derjenigen, die dem fernen Grafen von Monte Malo sieben Geißlein hatte schenken sollen, es aber nicht zuwege gebracht hatte aus Hochverratsgründen. Auf dem Schafott noch hatte sie Geifer gesprüht, hatte dem Henkersmann Aloysius Schnitzendrecker auf die braune Kutte gerotzt und dem Grafen von Monte Malo einen Fernfluch in die Bettlaken geschleudert. Nie mehr sollte er geruhsam die Henkersprotokolle lesen können als Einschlafhilfe und Ehevollzugsersatz. Nur noch schnaufen und in die Laken sabbern. Dies und vieles mehr sollte in des Humperdincks Choralspiel zur harmoniekonformen Sprache kommen und glorios aufgeführt werden im Jahr der Ziege.

Während der Humperdinck von den führerlosen Pferden gerade über den Strohschober des Landbestellers Pfefferkorn mehr geschleudert als gezogen wurde, mahnte die Kirchturmuhr zur Mette.

Sieben Schläge, sieben Sünden.

Und der Regenmüller krempelte seine Stulpen über die Knöchel und hastete zur Kirchplatz. Dort würde er die Knute kreisen lassen. Dort würde den sieben Sünden eine Abfuhr erteilt werden. Denn der Regen würde fallen in siebenfacher Ausführung und hinwegschwemmen die Last der Plagen.

 


Das Erbe des Holundergerbers

 

Woytila Semmelschrot ließ nichts unversucht, um an das Erbe des Holundergerbers zu kommen. Ein leichtes Vorhaben, wie es beim ersten Augenmerk schien. Doch dann rumpelten die Brüder Rabenaas und Klumpseil Orbaniak die Anhöhe des Erblassers hinauf, in ihrem historischen Draisinenverhau, den sie mit fünf langhubigen Kolbenrädern ausgestattet hatten sowie mit Klemmstühlen aus dem gehärteten Dung ihrer Karnickelställe. Vom Schubiakenland aus waren sie gestartet, hatten das Huberertal durchquert, dort die Wassermühle lahm gelegt, nur aus einer losen Laune heraus und weil es schon immer so gang und gebe war, dann den Höhenunterschied zum Gerberhügel in die Rechnung aufgenommen, und schließlich – nach dem Vertäuen der Enterhaken, Wachsstempel und der Schriftsätze des Schubiakenadvokatus Egidius van der Groetmanniak –, schließlich hatten sie die Draisine über die Serpentinen gequält, hatten im Vorbeifahren den Landbesteller Pfefferkorn um seine Barschaft gebracht und zu guter Letzt die Pförtnerhütte am Eingang der Gerberparzelle geschleift.

Klumpseil Orbaniak schlug erst einmal den Proviantsack auf, er war hungrig. Derweil keilte  sein Bruder Rabenaas Holzscheite und Felsbrocken vor die Räder des Draisinenungetüms.

Quer zur Einfahrt hatten sie das vier Stockwerke fassende und nach allen Seiten auskragende Gefährt geparkt, und dieses Hindernis galt es wegzuräumen, bevor überhaupt ein anderer Gedanke diesen ersten da abzulösen der Zeitpunkt auszumalen imstande gewesen wäre.

Diesen Gedankengang zerlegte der Woytila Semmelschrot in seine Bestandteile, bis nurmehr edelste Buchstaben in ihrer Urgestalt übrigblieben, methodisch aufbereitet zur fälligen Instandsetzung der vormaligen Satzkonstruktion, welche in Sinn, Form und Substanz mehr war als einzig eine Satzkonstruktion, welche – in ihre Bestandteile zerlegt – nurmehr edelste Buchstaben in ihrer Urgestalt übrig ließ, die, methodisch aufbereitet zur fälligen Instandsetzung…

Der Woytila überlegte sehr lange darüber nach und brachte seine Tätigkeit mit wiederholten Augenaufschlägen, An-den-Kopf-fassen und Grübelfalten im Stirnareal zum Ausdruck.

Uneingedenk dessen hatten die Brüder Orbaniak die Klemmstühle aus der Draisine gebaut, sie unter das Vordach der Gerberwerkstatt geschoben und sich schief in sie gezwängt, immer eine Hand am Revers, die andere undurchsichtig in der Hosentasche zerknüllt.

"Wir", kreischten sie auf mit blaugesichtigem Geifersprotz, "betrachten uns als tie rechtmäßigen Erben tes Holundergerbers, tes neulich Hinübergerafften. Uns stehen zu:

1.        Tie Weiher halbrund um ten Gerberhügel mitsamt ten Tuchgestellen, Holdermieten und Gerbfässern entlang ter südlichen Breitenstreifen.

2.        Tas Geschmeide seiner Geliebten, teren es viele waren an Anzahl und Brustumfang.

3.        Tie gedrechselten Zierleisten seiner Karossen, in Sonderheit ter Cadillacs mit ten rosafarbenen Polsterpüschelchen.

4.        Hinzu kommen Tupfer, Torbeschlag und Tretpfade, Titangriffe an ten Türen, tie Traufhöhen ter Tachrinnen, Teller, Tablettenschachteln, überhaupt alles, was tie Grenzen tes Holundergerbers einschließen ohne Ausnahme, sofern tie Tinge mit tem Buchstaben T anfangen, tiesmal freilich mit allen tenkbaren Ausnahmen."

 

Der Woytila Semmelschrot musste schlucken.

Und wo wir gerade tabei sind, herrschte Rabenaas giftgallend, nehmen wir auch noch ten Brunnen in Beschlag, ter, wie man hört, ein süßliches Fäustelchen in seinem tiefen Tunkel  aufbewahret.

Rabenaas hatte das Wort 'aufbewahret' noch nicht ausgesprochen, als sein Bruder Klumpseil dazwischenfuhr und ihm dasselbige Wort im Munde mit harscher Speichelinkontinenz einbalsamierte.

Unterdessen hatte es sich Woytila vor der Draisinensperre provisorisch eingerichtet mit Mettwurstenden und vierzig Beuteln Bierpulver vom feinherbigen Pils des Schweigeklosters drunten im Huberertal, wo der Prior Dominikus so manch pilsiges Säftlein zum Gären brachte und auch ein feingeistiges Gebet darüber zu deklamieren wusste. Beim Sprech des Rabenaas aber fuhr Woytila auf. Hier fehlte ein Buchstabe, ein gewichtiger, das ahnte er beim Betrachten des Speichelkokons, der sich auf der Oberlippe des düpierten Rabenaas auswuchs. Und was bedeutete das Gleichnis vom süßlichen Fäustelchen drunten im tiefen Tunkel des Brunnens? Hatte der Holundergerber etwa seine vorgeblichen Ländereien, Weiher, Breitenstreifen, die Geschmeidesammlung, seine Traufhöhen, Titangriffe und die gedrechselten  Zierleisten an den Cadillacs nur vorgetäuscht und sein eigentliches Erbe in den Brunnen versenkt?

Es galt, die Ketten des Gleichnisses  zu sprengen. Vorher würde Woytila die Rechtmäßigkeit seiner Erbansprüche nicht auf die Fahne seines Feldzuges eingravieren können. Und er wusste bereits, wie er sein Ziel ins Auge der Gewissheit fassen konnte. "Mit einem Sixpack an Dusel und Dübel!" Diesen Fluch formte er in der Schwüle seines Kehlraumes, modulierte mit behänder Zunge eine Kugel daraus und floppte rückstrahlgeifernd das Geschoss in eine Bahn des Verderbens, schleuderte den Fluch in gerader Linie auf das Brüderpaar, das sich soeben ahnungslos an dem Brunnen im Vorhof des Gerberplateaus zu schaffen machte.

Das Geschoss verfehlte sein Ziel um zwei Grad Nordost. Klumpseil Orbaniak glaubte eine Brise Salz vernommen zu haben, die vom Firmament gerieselt sei auf dem Weg zur Kräuterfrau Gundula Großfetzen drüben am Kadaverturm, wo die Salzkörner zu einem unförmigen Gestein verklumpt und mit Getöse in drei Teile zerbrochen seien. Da habe es gekracht und im Trockenbeet der Kräuterfrau eine unartige Diskussion ausgelöst.

Diese Version jedenfalls übermittelte der Klumpseil seinem Bruder.

"Wie meinen?" näselte Rabenaas  parfümiert, dem hier vieles rätselhaft vorkam. Nicht nur hatte er den Sinn des Berichtes seines Bruders nicht verstanden, sondern auch den Sinn des Fluches, den er von den Lippen des Woytila abgelesen hatte und darüber hinaus auch noch den Sinn des ganzen Erbschaftsstreites. Soeben hatte er einen Blick in die Tiefe des Brunnens geworfen. Schauerlich war sein Blick zurückgeschallt, war sägend an seinem Hals vorbeigesaust  und hatte im Vorüberflug eine Schneise in sein unlichtes Bartgestrüpp gefräst. Von einem süßlichen Fäustelchen aber hatte er keine Spur entdecken können.

Unterdessen hatte Woytila zwei Beutel Bierpulver in eine Kumme geschüttet. Er schälte die Mettwurstenden aus dem Plastikdarm und tunkte sie in das Pulver. Ei, wie der Bratenduft über das Gelände zog. Das roch nach Himmel und Erde, nach Weihnacht und Griebenklößen, nach Jahrmarkt und Glühwein, nach Kaffee und Erdbeerschnitten, nach Torten und Tunken, nach noch so viel mehr, dass die Worte ihren Geist aufgegeben hätten, wäre da nicht das Sixpack an Dusel und Dübel, welches der gewitzte Woytila Semmelschrot in die Liste der Gerüche flink einzuflechten wusste, recht wohl ahnend, dass er damit den Brüdern Orbaniak das Genick würde brechen können, so sie denn die Fährte aufnehmen und mit dem Köder in die Falle stolpern würden.

Und sie bissen an!

Tusel und Tübel radebrechten die Erbschleicher, Tusel und Tübel, Tusel und Tübel, und je öfter sie die ihnen so verhasste Initiale zu artikulieren versuchten, desto mehr bogen sich ihre Hälse, desto schiefer verkrümmten sich ihre Nackenstränge.

Der Woytila horchte.

Tusel und Tübel, Tusel und Tübel, immer wieder und aufs Neue probierten die Brüder die richtige Aussprache, schlugen die Zunge hinter den Gaumen, drückten sich die Nase zu, steckten Finger in den Rachen, und da, da endlich erklang es, das ersehnte Geräusch: Ein feines Knirschen wie von Engelsharfen gefolgt von einem soliden Doppelknack. Gebrochen war das Genick beider Brüder. Der Erbstreit war entschieden. Unangefochten gingen Hab und Gut des Holundergerbers in die Hände des Woytila Semmelschrot über, und noch viele Dekaden lang labte er sich an Traufhöhen, Tablettenschachteln und den übrigen Gütern des in die Ewigkeit aufgestiegenen Erblassers, sofern diese mit dem Buchstaben T anfingen, freilich mit allen denkbaren Ausnahmen.

 

 


Der Ruin des Supermarktes

 

Die Frau des Chefeinkäufers Balthasar Brockenfall hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Supermarkt zu ruinieren. Sie würde Vorfälle erzeugen, sagte sie zu ihrem Mann. Der Chefeinkäufer nickte bedächtig und zog an seiner Pfeife. Die Pfeife war kalt, der Tabak abgebrannt, und beim Saugen an der im Grunde nutzlosen Pfeife traten gurgelnde Geräusche im Inneren des Mundstückes auf, die darauf schließen ließen, dass sich dort Sud oder Speichel angesammelt hatte, vielleicht auch eine Kondensflüssigkeit, die, sobald sie auf die Zunge des Saugenden traf, ein scharfes Brennen verursachte, worauf sich der vermeintlich Rauchende genötigt fühlte, einen Rotz auf den Boden zu spucken, und zwar deshalb auf den Boden, weil in unmittelbarer Nähe kein spucknapfähnliches Gefäß vorgehalten wurde, das mit dem braunen Schleim-Speichel-Sud angefüllt werden konnte.

Balthasar Brockenfall rotzte auf den Boden.

Frau Adele Brockenfall zog die Gardine vom Wohnzimmerfenster zur Seite, streckte ihren vielfach beringten Zeigefinger in Richtung des Supermarktes auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hub zu einem Wehklagen an. Der Supermarkt versperre die für sich genommen erkleckliche Sicht auf den Sonnenuntergang drunten im Huberertal. Den Sonnenuntergang aber könne man nur ahnen, das sei früher besser gewesen. Heute müsse man sich mit dem Beton- und Glasklotz begnügen, der geradezu wabere vor Protz und Blendwerk. Der versperre sogar die Sicht auf den Watzberg, dessen Spitze gerade mal über den First des Supermarktungetüms luge. "Ein Skandalum", sagte sie geziert. Und in einem Anfall von Schadenfreude setzte sie nach: "Aber dem Beichtvater Pastorius Gotthelfe Knustfurzer, dem habe ich es schon hinter die Ohrlöffel gepackt, und keineswegs zu dünnhäutig, das sage ich dir."

Dass der Sonnenuntergang bereits hinter dem Watzberg seine Pforten schloss und deshalb nicht im Huberertal Einzug halten konnte: mit solcherlei Logik konnte man bei der Frau Adele keinen Fußbreit punkten.

"Dir wird noch mal der Schubiak über das Gatter hüpfen." Dies vermerkte der Chefeinkäufer in wenig galanter Manier. Man muss wissen, dass allein schon das Wort Schubiak den Einwohnern der Kleinstadt Lodenheim hier am Fuße des Monte Malo einen gehörigen Schrecken einjagte. Den Gedanken aber auszusprechen, einer dieser Gesellen könne vorbeikommen, um über das Gatter zu hüpfen: das galt als höchste Alarmstufe. Und wirklich zeigte der Satz seine Wirkung. Frau Adele erbleichte. Mit weinerlicher Stimme verlangte sie das smarte Phon. Sie müsse die Huberer warnen, denn wenn das Schubiakenpack erst einmal über das Gatter hüpfte, war das Ende der Herrlichkeit in Sichtweite und selbst der Graf von Monte Malo könne angesichts der Trampelage nur noch das weiße Kapitulationshandtuch vom Burgfried schleudern.

Man gut, dachte Balthasar, dass sie darüber ihr Vorhaben vergessen hat, Vorfälle zu erzeugen. Er selbst hatte nichts gegen den Supermarkt einzuwenden. Der hatte bis 20 Uhr geöffnet, und Balthasar wollte sich gar nicht ausmalen, was wäre, wenn dort noch der alte Krämerladen stünde mit der griesgrämigen Letitia Grabmade, die war ja schon über die 70 und hatte einen Männerbart unter der Lippe, und wie die überhaupt keifte, wenn man mal den Laib Brot zurückgeben wollte, weil der von innen einem Schimmelpilz üppige Nahrung zur Verfügung stellte, dass einem Hören und Sehen verging, sprichwörtlich, und dann erst die Kernseife, meine Herren, die hatte einen Geruch, da würde ja das ganze Büropersonal die Stirnpartie zu runzeln nicht abgeneigt sein, eine Blamage und erster Sargnagel für seine Karriere als Chefeinkäufer beim Sanitär- und Eisenwarengroßhandel Rauschenbacher GmbH.

Derweil hatte Adele das Smartphone mit zittrigen Fingern zu bedienen gewusst, hin und her waren ihre Fingerkuppen auf dem Display gejuckelt, bis endlich ein heiserer Ton aus dem Lautsprecherlein krächzte. Es war die Heidi, die vom Huberer-Klan, die, die immer auf den Watzberg kraxelte, um von hoch oben einen feschen Jodler abzublasen.

Was die Adele denn mitzuteilen hätte, frug die Huberer Heidi zerzaust. "Da sieht man es wieder", rief die Frau Brockenfall seelisch erstarkt, "sie führt meinen Namen noch im guten Munde!"

Herr Balthasar Brockenfall hatte seinen Pfeifenstopfer in Anschlag gebracht und tief in den Kolben gestoßen.

"Die Sirenen pfeifen es schon von den Dächern!" Wiederum schrie die Brockenfall Adele mit druckgeschwängertem Stimmvolumen. "Der Schubiak will über das Gatter hüpfen."

Hier schritt der Gemahl mit vehementem Gestenreichtum ein. Das Smartphone entriss er seinem Weibe. Womöglich würde die Heidi die Sturmglocken über das Tal hereinbrechen lassen, wenn sie für bare Münze nähme, was die Adele da in den Hörer posaunte. Nein, da galt es das kleinere Übel hinzunehmen und die Erzeugung der Vorfälle seitens seiner Frau ins entsagend Auge zu fassen. Was er sich erlaube, keifte diese. Der Ehefrieden sei gestört. Sie würde sich jetzt auf die Socken begeben und Vorfälle erzeugen drüben im Supermarkt. Da brauche er, der rüde Unterbrecher der Nachrichtenkette, sich keinen Deut mehr machen.

Die Vorfälle, die sie andeutete, waren schon Anlass genug für ein Einschreiten auf höherer Ebene. Einmal hatte sie sich in die Fleischabteilung gehockt, auf ihre geborstene Gitarre geschlagen und Folklorelieder zum Intonieren gebracht, Lieder, aufrüttelnd in jeder Zeile, Verse, die zum Denken aufforderten und protestlerisch rüberkamen. Da hatte der Fleischermeister sein Beil in den Hackklotz gewuchtet  und das Wort "Schweinedarm" gerufen. Wirkungsmächtig war auch der Vorfall, den sie als szenische Lesung aufgeführt hatte. Ihr nacktes Hinterteil hatte sie in die Käsetruhe gerammt und dabei ein selbst verfasstes Gedicht über den Wahnsinn der Atomelektrizität vorgetragen, kühn, verstörend, unbequem. Der Sicherheitsdienst musste die Truhe mitsamt Inhalt nach draußen tragen, da der Hintern der Adele festgeklemmt war oder eingefroren oder beides. Ein ander Mal war sie mit einem Plakat durch die Dessous-Abteilung gestürmt. Auf dem Plakat konnten die Hausfrauen, die gerade die Seidenunterwäsche befingerten, einen geschlachteten Hammel erblicken, der an einem Galgen hing, angetan mit einem BH und einem Stringtanga. Dass die Adele bei jeden Einkauf die Suppendosenpyramide umwarf oder das Regal mit den Weinflaschen zum Einstürzen brachte: das gehörte praktisch zur guten Kinderstube ihrer Shoppingtour.

Und Adele Brockenfall sprang hinüber und erzeugte Schlag 19 Uhr den ersten Vorfall.

Der Ruin des Supermarktes war nur noch eine Frage der Rhetorik.

Freilich, der Schubiak, der lauerte bereits vor dem Stadttor von Lodenheim, mit den flammenden Insignien der Raserei, und er machte unmissverständlich Anstalten, über das Gatter zu hüpfen.

"Darauf kannst du einen Besen werfen", sagte der Chefeinkäufer zur heimgetriebenen Adele, welche derart aufgestachelt  mit der Erzeugung weitaus schändlicherer Vorfälle drohte. Da aber, als wolle er das Schicksal mit Treu und Glauben besiegeln, rotzte Balthasar auf den Boden.

 


Grausige Details einer Entführung

Eine Nacherzählung

 

Marlene Kaltenfussel hatte noch Zeit. Ein Geräusch hatte sie aus dem tiefsten Schlaf geholt, eine Art Schlurfen oder Rascheln, aber schlaftrunken wie sie war, gab sie nichts darauf. Der Reisewecker würde ohnehin gleich zu Piepen anfangen. Da wurde sie aus dem Hotelbett gerissen und grob auf die nachtwarmen und noch schlaflahmen Füße gestellt.

„Sind's die Schubiake, um mich zurückzubringen?“ rief sie angstgesättigt, während sie nach einem Halt tastete. In dieser Frühe war es noch finster, kein Lichtstrahl furchte durch knapp gespreizte Jalousienlamellen, keine trübe Birne an der Stuckdecke, kein aufflammendes Zündholz, welches, fahrig hierhin und dorthin flackernd, von zitternder Hand geführt wurde. Ein modriger Hauch fuhr um die Wehen der Marlene Kaltenfussel bzw. wehte um ihre Fuhren, oder genauer gesagt, fuhrte wehend in ihr Nasengehöcker. Entsetzt wich sie zurück. „Der Gestank des Robiniak!“ gellte sie, „der Odem des alten Hauzahns, desjenigen mit dem schwarzumrandeten Fuß!“

Keine Antwort, nicht einmal ein Schnaufen. Dafür eiserne Bizeps, die die Schrumpelbrust der Marlene quetschten, nicht zulassend, dass sie nach Luft schnalzen konnte, lediglich ein Pfeifen aus gepresstem Lungenödem. Das rasselte. Man könnte einen Vergleich anstellen zur Veranschaulichmachung des Geräusches aus gequälter Folterbrust, man könnte das Kettenscheppern eines Panzerfahrzeugs als Beispiel heranziehen oder das Ratschen, wie wenn zwei rostige Eisenplatten von unsichtbarer Hand aneinander gerieben würden, oder vom Husten eines Dieselmotors könnte man parlieren, mit Fehlzündungen, die frisch in den Nebel knattern. Doch alle Metaphern versagen angesichts des Ungemachs, welches die Marlene hier im Reise- und Durchgangshotel auf halber Höhe des Watzberges ertragen musste. Zur Umklammerung kam ja als Zweites der Knebel, ein vorweg klebrig eingespeicheltes Wollknäuel, das unzart zwischen die Zahnreihen der zur Entführenden geschoben ward. Und es folgten als unumgängliche Marterung und Sicherstellung des Opfers die Ohrstöpsel, gewonnen aus dem Kleister der Kartoffelstärke, geschmeidig gezwirbelt in die Form glattbäuchiger Zwiebelchen. In die Ohrgänge der Marlene wurden die Preziosen hineingezapft, mit obszöner Begleiterklärung, und Marlene, von da ab taub und stumm und geknebelt, erwartete gar nichts mehr.

Welch Fehl in der schon abgeschlossenen Hoffnungslosigkeit!

Denn ein Viertes wurde vom grausamen Robiniak in Rechnung gestellt, und ja, kein anderer als der alte Hauzahn mit seiner vergleichlosen Ungüte war es, der hier werkte. Ein Viertes also sollte den Handlungsstrang krönen. Dieses Vierte aber war nichts Bedenklicheres als das Einträufeln einer schwer durchschaubaren dünnflüssigen Substanz, und die Transfusion sollte wie immer ohne Tadel anstellig ausgeführt werden!

An diesem Punkte jedoch, just nach dem vorhergehenden Komma der Nacherzählung, sprang der Sekundenzeiger des Reisenweckers auf die vormarkierte Stelle, und es schrillte das Wecksignal auf wie Fanfarenstoß und Kriegsgeheul. Gleichzeitig stießen auch in den anderen Zimmern des Flures die Wecker ins Alarmhorn. Denn was der grausame Schubiak nicht auf seinem Spickzettel notiert hatte, ging  soeben als die Saat der Überraschung auf: 50 Ältliche vom Klan der Huberer hatten sich vortags einquartiert, und alle hatten akkurat ihre Wecker sekundengenau auf den gleichen Zeitpunkt gestellt. Wie von Dirigentenhand geleitet erhob sich ein Oratorium der Glöckchen, Piepser, Klingeln, Ratschen, Pfeif-, Quak-, Jaul- und Rasseltöne, ein Rascheln und Husten, ein Fensterlüften, ein Rauschen von 50 Toilettenspülungen, ein Klappern von 50 Zahnputzbechern, ein allerseits An-die-Wändeklopfen und Türaufstoßen und Fraternisieren, und dies zusammen bedeutsamte die Rettung der Marlene Kaltenfussel, geb. Huberer, geschiedene Schubiak. Haargesträubt wich der Robiniak, der alte Hauzahn, vor dem Inferno zurück und kopfstürzte paniklich aus dem Fluchtfenster. Buchstäblich auf den Sekundenschlag wurde die Marlene gerettet. Und noch viele Tage danach wurde sie von den Ältlichen aus dem Huberertal befürsorgt, abgestreichelt und mancherlei beglückwunscht.

 


 

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