Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 49

 


 

 

Das Erbe des Holundergerbers

 

Woytila Semmelschrot ließ nichts unversucht, um an das Erbe des Holundergerbers zu kommen. Ein leichtes Vorhaben, wie es beim ersten Augenmerk schien. Doch dann rumpelten die Brüder Rabenaas und Klumpseil Orbaniak die Anhöhe des Erblassers hinauf, in ihrem historischen Draisinenverhau, den sie mit fünf langhubigen Kolbenrädern ausgestattet hatten sowie mit Klemmstühlen aus dem gehärteten Dung ihrer Karnickelställe. Vom Schubiakenland aus waren sie gestartet, hatten das Huberertal durchquert, dort die Wassermühle lahm gelegt, nur aus einer losen Laune heraus und weil es schon immer so gang und gebe war, dann den Höhenunterschied zum Gerberhügel in die Rechnung aufgenommen, und schließlich – nach dem Vertäuen der Enterhaken, Wachsstempel und der Schriftsätze des Schubiakenadvokatus Egidius van der Groetmanniak –, schließlich hatten sie die Draisine über die Serpentinen gequält, hatten im Vorbeifahren den Landbesteller Pfefferkorn um seine Barschaft gebracht und zu guter Letzt die Pförtnerhütte am Eingang der Gerberparzelle geschleift.

Klumpseil Orbaniak schlug erst einmal den Proviantsack auf, er war hungrig. Derweil keilte sein Bruder Rabenaas Holzscheite und Felsbrocken vor die Räder des Draisinenungetüms.

Quer zur Einfahrt hatten sie das vier Stockwerke fassende und nach allen Seiten auskragende Gefährt geparkt, und dieses Hindernis galt es wegzuräumen, bevor überhaupt ein anderer Gedanke diesen ersten da abzulösen der Zeitpunkt auszumalen imstande gewesen wäre.

Diesen Gedankengang zerlegte der Woytila Semmelschrot in seine Bestandteile, bis nurmehr edelste Buchstaben in ihrer Urgestalt übrigblieben, methodisch aufbereitet zur fälligen Instandsetzung der vormaligen Satzkonstruktion, welche in Sinn, Form und Substanz mehr war als einzig eine Satzkonstruktion, welche – in ihre Bestandteile zerlegt – nurmehr edelste Buchstaben in ihrer Urgestalt übrig ließ, welche, methodisch aufbereitet zur fälligen Instandsetzung…

Der Woytila überlegte sehr lange darüber nach und brachte seine Tätigkeit mit wiederholten Augenaufschlägen, An-den-Kopf-fassen und Grübelfalten im Stirnareal zum Ausdruck.

Uneingedenk dessen hatten die Brüder Orbaniak die Klemmstühle aus der Draisine ausgebaut, sie unter das Vordach der Gerberwerkstatt geschoben und sich schief in sie gezwängt, immer eine Hand am Revers, die andere undurchsichtig in der Hosentasche zerknüllt.

"Wir", kreischten sie auf mit blaugesichtigem Geifersprotz, "betrachten uns als tie rechtmäßigen Erben des Holundergerbers, tes neulich Hinübergerafften. Uns stehen zu:

1.      Tie Weiher halbrund um ten Gerberhügel mitsamt ten Tuchgestellen, Holdermieten und Gerbfässern entlang ter südlichen Breitenstreifen.

2.      Tas Geschmeide seiner Geliebten, teren es viele waren an Anzahl und Brustumfang.

3.      Tie gedrechselten Zierleisten seiner Karossen, in Sonderheit der Cadillacs mit den rosafarbenen Polsterpüschelchen.

4.      Hinzu kommen Tupfer, Torbeschlag und Tretpfade, Titangriffe an den Türen, tie Traufhöhen ter Tachrinnen, Teller, Tablettenschachteln, überhaupt alles, was tie Grenzen tes Holundergerbers einschließen ohne Ausnahme, sofern tie Tinge mit tem Buchstaben T anfangen, tiesmal freilich mit allen tenkbaren Ausnahmen."

Der Woytila Semmelschrot musste schlucken.

"Und wo wir gerade tabei sind", herrschte Rabenaas giftgallend, "nehmen wir auch noch ten Brunnen in Beschlag, ter, wie man hört, ein süßliches Fäustelchen in seinem tiefen Tunkel aufbewahret."

Rabenaas hatte das Wort 'aufbewahret' noch nicht ausgesprochen, als sein Bruder Klumpseil dazwischenfuhr und ihm dasselbige Wort im Munde mit harscher Speichelinkontinenz einbalsamierte.

Unterdessen hatte es sich Woytila vor der Draisinensperre provisorisch eingerichtet mit Mettwurstenden und vierzig Beuteln Bierpulver vom feinherbigen Pils des Schweigeklosters drunten im Huberertal, wo der Prior Dominikus so manch pilsiges Säftlein zum Gären brachte und auch ein feingeistiges Gebet darüber zu deklamieren wusste. Beim Sprech des Rabenaas aber fuhr Woytila auf. Hier fehlte ein Buchstabe, ein gewichtiger, das ahnte er beim Betrachten des Speichelkokons, der sich auf der Oberlippe des düpierten Rabenaas auswuchs. Und was bedeutete das Gleichnis vom süßlichen Fäustelchen drunten im tiefen Tunkel des Brunnens? Hatte der Holundergerber etwa seine vorgeblichen Ländereien, Weiher, Breitenstreifen, die Geschmeidesammlung, seine Traufhöhen, Titangriffe und die gedrechselten  Zierleisten an den Cadillacs nur vorgetäuscht und sein eigentliches Erbe in den Brunnen versenkt?

Es galt, die Ketten des Gleichnisses  zu sprengen. Vorher würde Woytila die Rechtmäßigkeit seiner Erbansprüche nicht auf die Fahne seines Feldzuges eingravieren können. Und er wusste bereits, wie er sein Ziel ins Auge der Gewissheit fassen konnte. "Mit einem Sixpack an Dusel und Dübel!" Diesen Fluch formte er in der Schwüle seines Kehlraumes, modulierte mit behänder Zunge eine Kugel daraus und floppte rückstrahlgeifernd das Geschoss in eine Bahn des Verderbens, schleuderte den Fluch in gerader Linie auf das Brüderpaar, das sich soeben ahnungslos an dem Brunnen im Vorhof des Gerberplateaus zu schaffen machte.

Das Geschoss verfehlte sein Ziel um zwei Grad Nordost. Klumpseil Orbaniak glaubte eine Brise Salz vernommen zu haben, die vom Firmament gerieselt sei auf dem Weg zur Kräuterfrau Gundula Großfetzen drüben am Kadaverturm, wo die Salzkörner zu einem unförmigen Gestein verklumpt und mit Getöse in drei Teile zerbrochen seien. Da habe es gekracht und im Trockenbeet der Kräuterfrau eine unartige Diskussion ausgelöst.

Diese Version jedenfalls übermittelte der Klumpseil seinem Bruder.

"Wie meinen?" näselte Rabenaas  parfümiert, dem hier vieles rätselhaft vorkam. Nicht nur hatte er den Sinn des Berichtes seines Bruders nicht verstanden, sondern auch den Sinn des Fluches, den er von den Lippen des Woytila abgelesen hatte und darüber hinaus auch noch den Sinn des ganzen Erbschaftsstreites. Soeben hatte er einen Blick in die Tiefe des Brunnens geworfen. Schauerlich war sein Blick zurückgeschallt, war sägend an seinem Hals vorbeigesaust  und hatte im Vorüberflug eine Schneise in sein unlichtes Bartgestrüpp gefräst. Von einem süßlichen Fäustelchen aber hatte er keine Spur entdecken können.

Unterdessen hatte Woytila zwei Beutel Bierpulver in eine Kumme geschüttet. Er schälte die Mettwurstenden aus dem Plastikdarm und tunkte sie in das Pulver. Ei, wie der Bratenduft über das Gelände zog. Das roch nach Himmel und Erde, nach Weihnacht und Griebenklößen, nach Jahrmarkt und Glühwein, nach Kaffee und Erdbeerschnitten, nach Torten und Tunken, nach noch so viel mehr, dass die Worte ihren Geist aufgegeben hätten, wäre da nicht das Sixpack an Dusel und Dübel, welches der gewitzte Woytila Semmelschrot in die Liste der Gerüche flink einzuflechten wusste, recht wohl ahnend, dass er damit den Brüdern Orbaniak das Genick würde brechen können, so sie denn die Fährte aufnehmen und mit dem Köder in die Falle stolpern würden.

Und sie bissen an!

Tusel und Tübel radebrechten die Erbschleicher, Tusel und Tübel, Tusel und Tübel, und je öfter sie die ihnen so verhasste Initiale zu artikulieren versuchten, desto mehr bogen sich ihre Hälse, desto schiefer verkrümmten sich ihre Nackenstränge.

Der Woytila stand still und horchte.

Tusel und Tübel, Tusel und Tübel, immer wieder und aufs Neue probierten die Brüder die richtige Aussprache, schlugen die Zunge hinter den Gaumen, drückten sich die Nase zu, steckten Finger in den Rachen, und da, da endlich erklang es, das ersehnte Geräusch: Ein feines Knirschen wie von Engelsharfen gefolgt von einem soliden Doppelknack. Gebrochen war das Genick beider Brüder. Der Erbstreit war entschieden. Unangefochten gingen Hab und Gut des Holundergerbers in die Hände des Woytila Semmelschrot über, und noch viele Dekaden lang labte er sich an Traufhöhen, Tablettenschachteln und den übrigen Gütern des in die Ewigkeit aufgestiegenen Erblassers, sofern diese mit dem Buchstaben T anfingen, freilich mit allen denkbaren Ausnahmen.

 

Der geniale Text hat unsere Philosophen diesmal etwas aus dem Tritt gebracht, aber nur etwas.

 

SCHLOTTERDICK & ZERFRANSKI

 

Schlotterdick: "Die Welt des Tusel und Tübel als polyfokales, den Myriaden der Choreographien in verschütteten Adversaria geschuldetem Gewese sowohl im informationellen – das meint den imaginär orientierten als auch orientierungslosen Universalismus – mit ad hoc perpetuierten Aleatorismen von An-Sich-Tingen, ich darf Kant zitieren, der den Betingungen des Wirklichen als Kontinuität der menstrualen Distribution, Klammer auf, hier greift meine vielfach plagiierte These zur Struktur des Vorhergehenden, Klammer zu, der also, und ich nehme den Fladen wieder auf, der Idee des Tinges an sich das Gemeinsinnige als Tunte gegenüberstellt, mit Verlaub."

Zerfranski: "Genau beobachtet, wie stets, und frisch ausgesprochen."

 

´"Blödsinn!" (M. Reich-Ranicki)

Knopf drücken, schlau werden: Quark 50 

 

 

zurück nach Biographie       

Warnungen, AGB, Dementi, Kleingedrucktes, Blog: