Hans Joachim Teschners

 

Lebens-Quark 18

 

 


 

 

 

 

 DR. BRANDSTETTER

 






 
 

Das Leben der Ameisen

 

Natürlich wollte Dr. Brandstetter in seiner Jugendzeit Lokomotivführer werden. Ein Traum, den er mit vielen teilte. Er hatte alles klarsichtig geplant: zunächst die Schnupperwochen im Gepäckwagen, dann ein Volontariat als Billettschaffner. Von dort aus der Aufstieg in die Kanzel der Lokomotive, um schließlich – ein etwas sprunghafter Wechsel – als Kapitän die Weltmeere zu befahren. Zwischendurch focht er lebensbedrohliche Scharmützel mit den Sioux-Indianern Nordamerikas aus, auf schwankenden Seilbrücken über einem Cañon oder im Tal des Todes. Ab dem 12. Lebensjahr beschäftigte ihn das Tragen einer Kurzsichtigkeitsbrille. Dies warf ihn in eine andere als die vorgesehene Bahn, welche letztlich für einen nicht unangenehmen Wohlstand sorgte. Es ist nicht das Leben der Ameisen. Keine Mühsal. Freitags gar verlässt er die Firma bereits gegen 12 Uhr.

„Was willst du mehr?“ fragt Dr. Brandstetter oft seine Frau, und die Kinder nicken bescheiden.

 

 


 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Um daran anzuschließen,“ sagte Diedel, „das mit der heutigen Poppmusik, genauer gesagt Ploppmusik, ich ziehe zurück und berichtige auf Beklopptmusik als Vorgänger der nächsten Stufe, die den Namen Vollbeklopptmusik verdient, wobei deren letztmögliche Steigerung sich im Formatradio blödig entblößt mit den pathetisch aufgebrezelten Weichspülsongs der derzeitigen Germano- bzw. Popelbands, die schmiernippelnden Mannheimer als Garant lallender Langeweile, nur um eine dieser Verirrungen zu nennen, oder vielleicht noch das hustende Krachbrunzen und androgyne Posing der Tokioisten, ein seifig die Ohren verkleisternder belangloser Hype ohne Sinn und Sinnlichkeit als Finalkeuchen der Egoisten- resp. Emanzengemeinde mit ihren raffgierig konsumistischen Slogans als da sind Ichwillalles oder IchbinIch oder Ich&Ich oder Ichbinwichtig oder GesamtkunstwerkIch, überhaupt nur noch das IchIchIchIch und was das Psycholexikon noch so alles an perversen Verfäulnissen ausspuckt.“

Jerry nickte. Das Parlando saß, mit filigran aufgefalteter Finesse, wenn auch die Syntax klemmte. „Ein feinziselierter Prolog“, hub er an, einen Lobgesang zu intonieren, „mit gebotener Kürze, gleichwohl aber innig schallend, Metaphern voller Adel, marmoriert im Satzbau, affirmativ auf der Metaebene und tendenziös, wo es nötig scheint. Doch antworte mir, mein Freund, auf Fragen, die sich aus deinen wohlgeformten Elogen gehaltreich stellen. Bist du gewillt, darauf zu antworten?“

„Das bin ich gewillt!“ rief Diedel visionär erleuchtet.

„Dann lautet die erste Frage: Geht es dir um das treue Erbe der Rockmusik und seine geziemende Fortsetzung?“

„Darum geht es mir und um nichts sonst auf der Welt!“

„Glaubst du an das tieftönende Postulat der Lauterkeit von Musik sowie an die Lautheit der postulierten Tieftöner, auch wenn du den Sinn dieser Wendung nicht verstehst?“

„Daran glaube ich fest und unerschütterlich!“

„Meinst du, das Anliegen der Rockmusiker müsse sein, erfreuliche Songs zu produzieren, duftend wie das Raspelholz, schmackhaft wie die Frikadelle, großherzig wie das ausgestorbene Mammut?“

„Das meine ich, zum Gotterbarmen!“

„Sollen die Musiker frische Melodien auf den Markt werfen, spritzig im Detail, blumig in der Verzierung, kokett im Tiefgang, alterierend zu den harmonischen Wendungen?“

„Das genau ist meine Ansicht und keinesfalls das Gegenteil!“

„Was hältst du von der Verwendung hunderfach ausgelutschter Versatzstücke, von wohlfeilen Klischees, zusammengeklaut und aneinandergekleistert, um dem schlechten Geschmack des Bistrogängers einen Kotau zu entbieten?“

„Diese Verrichtung sei des Satans und verdammt in alle Ewigkeit, auf dass sie in tausend verschiedenen Hitzegraden qualvoll lodere und der Siebenschwänzige darob vor Neid erblasse.“

“Altbackene Harmonien, gefällige Rhythmen: Sie sollten nicht immerfort aufgekocht werden?“

„Niemals darf dieses geschehen, nicht einmal als dünnschissiges Süpplein!“

 „Was sagst du zu den Texten der Barden. Sollen sie ehrlich & aussagekräftig sein, konkret & phantasiereich, herb & saftig, unprätentiös & gradlinig, lebensnah & situationsgerecht, anspielungsreich & frivol, rebellisch & unberechenbar, kritisch & distanziert ohne Anbiederung & Verschwiemelung?“

„Kein anderes Sollen ist mir vorstellbar!“

„Nun aber“, ergriff Jerry den Faden der Ariadne erneut, „kommen wir zurück auf die Eingangssequenz dieser Überforderung des Themas. Ich frage, schlank und gerecht: Wer soll ahnen, woran dein faunisches Textgewühl eigentlich anschließt. Die laufende Versionsnummer könnte zwar etwas Licht ins fahrige Wasser schütteln, freilich, wo zum Leibhaftigen soll die #58 zu finden sein, die – als Vermutung in die Bresche gestoßen – den Grund zu deinen Veranlassungen hergibt? Was aber, und hier schießt das Kraut vollends in die Rüben, wenn die Nummerierungen aleatorisch generiert sind? Randomisiert in Schnipselfraktionen? Wenn es keine fortlaufende Reihenfolge gibt? Das frage ich.“

„Dann gute Nacht, mein Freund.“

„Dann gute Nacht!“

Diedel ließ einen fahren.

„Prallen“, kommentierte Jerry, „Kafka bezeichnete das Einenfahrenlassen als Prallen. Was den Effekt allerdings auch nicht ungewesen macht.“

„Scheiß drauf“, ranzte Diedel unwirsch, „jetzt gibt’s gute Mucke.“ Er legte eine Platte von van Morrison auf. Astral Weeks. Die neue Liveaufnahme. Aber irgendwie klang das auch nicht mehr. Das leierte.

„Irgendwie langweilig“, legte Jerry nach.

Bis weit nach Mitternacht noch saßen sie im dunklen Zimmer. Stumm. Unbeweglich. Ratlos.

 

 


 

 

Etwa um die 1990 herum, da hatte ich schon die 30 überschritten, erschien es mir angeraten, das multiple Aderwerk meiner Projektsammlungen weiterhin zu diversifizieren und der Vielgleisigkeit meines kreativen Outputs ein weiteres Schaffensbein in den Orkus der Öffentlichkeit zu schleudern. Diesmal sollte es vergnüglicher zugehen, nicht antibürgerlich, nicht subversiv, nicht rebellisch im Sinne altbackener Rockmusik, sondern fügsam, den feinen Geschmack das Wort ins Gewissen reden. Im Minutentakt entstanden funkelnde Kometschweife der Poesie, jedes ein Juwel, jedes einzelne das Herz wärmend. Mit zwei kleinen Naturgedichten aus der Sammlung soll hier die etwas düstere Stimmung speziell dieser Seite ins Heitere gewandet werden. Duftige Worte, titanische Wirkung!

 

Morgens

 

Morgens wenn die Birken krähen

Wenn die Blätter in den Taschen rascheln

Ziehen Bläumelein durchs Himmelsfirmament

Und der Vögel quitschert.

Mäusekot

 

Das Has blökt

Der Schaf hoppelt

Die Hund katzelt schleich

Ein Bell schwanzelt buckelschnurr.

 



 

 

 

 

 DR. BRANDSTETTER

 


 

Die gute Sitte

 

„Eine Überweisung nach alter Art und guter Sitte!“ Dr. Brandstetter hatte, wie er meinte, deutlich artikuliert, auch nicht die Wortendungen vernuschelt.

„Eine Überweisung?“ fragte der Fischverkäufer und beugte sich düster über einen toten Aal.

„Wollen Sie mir Ihre Schwerhörigkeit streitig machen, junger Mann?“ Schmerzhaft spürte Dr. Brandstetter die Abwesenheit guter Sitte, und er langte enttäuscht in den Heringssalat. Hierüber wachte er auf, dachte er, fuchtelte noch schlaftrunken zum Nachttisch, fand aber den Wecker nicht. Stattdessen glitt etwas Glitschiges über seinen Handrücken. Es war diese Berührung mit dem Karpfen, die ihn in die Wirklichkeit zurückstieß. Mit nassen Hemdsärmeln verließ Dr. Brandstetter das Postamt.

 

 

 

 

                                             

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